Sobald sie darüber getadelt und gestraft wurde, wollte sie lieber den Urin an sich halten, und sie wuste sich ihrer Muskeln zu bedienen. Folglich war das Wesen der Schliesmuskeln (y*) geschikkt, daß sie dem Willen gehor- chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch diese ganze Sache eine Sache der Kunst ist, und auf eine Verabre- dung mit andern Menschen ankömmt.
Es stekkt aber in dieser Sache etwas bewundernswür- diges, welches wir an einem andern Orte weitläuftiger erwägen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will- kürlichen Muskeln so wenig durch die Gewonheit, daß so- wohl der Mensch, als das Thier, sobald sie an des Ta- ges Licht kommen, diejenige Muskeln, die bei ihnen voll- kommen sind, ohne eines andern Anweisung, und ohne Versuche zu gebrauchen wissen (a).
Es thut uns nichts, daß man ein verstelltes schwere Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos die Muskeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen ohnedem unterworfen sind.
Es entzieht sich ferner ein willkürlicher Muskel, so lange man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man führt deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem sel- bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals demselben ungehorsam sind. Wir nikken damit tausend und hundert tausend mal, ohne daß die Seele eine beson- dere Jdee dazu bekäme. Allein wir können doch, wenn
es
(y*)[Spaltenumbruch]LANGRISCH mot. musc. n. 12. 13.
(z) Jch wundere mich, daß dieses Exempel hier angefürt wird, vom David HARTLEY p. 106. daß sie allmälich den Gebrauch der Mus- keln erlerne, und daß Kinder nicht hören können, weil sie die schönste Musik nicht lieben, schreibt CAR- DANUS in Tract. de subtilitate pag. 490. et HAMBERGERUS [Spaltenumbruch]
physiol. pag. 573. welcher aber nie gesehen haben mus, daß Kinder durch Singen eingewiegt werden.
(a)Add. n. 30.
(b) Eben dieses erinnert der be- rümte de LIGNAC lettre d'un Americain. T. VIII. pag. 153. und von der Fliege, die aus dem acarus wird SWAMMERDAM p. 716.
(c)REAUMUR des insect. T. V. Mem. XI.
III. Abſchnitt. Urſachen.
Sobald ſie daruͤber getadelt und geſtraft wurde, wollte ſie lieber den Urin an ſich halten, und ſie wuſte ſich ihrer Muſkeln zu bedienen. Folglich war das Weſen der Schliesmuſkeln (y*) geſchikkt, daß ſie dem Willen gehor- chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch dieſe ganze Sache eine Sache der Kunſt iſt, und auf eine Verabre- dung mit andern Menſchen ankoͤmmt.
Es ſtekkt aber in dieſer Sache etwas bewundernswuͤr- diges, welches wir an einem andern Orte weitlaͤuftiger erwaͤgen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will- kuͤrlichen Muſkeln ſo wenig durch die Gewonheit, daß ſo- wohl der Menſch, als das Thier, ſobald ſie an des Ta- ges Licht kommen, diejenige Muſkeln, die bei ihnen voll- kommen ſind, ohne eines andern Anweiſung, und ohne Verſuche zu gebrauchen wiſſen (a).
Es thut uns nichts, daß man ein verſtelltes ſchwere Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos die Muſkeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen ohnedem unterworfen ſind.
Es entzieht ſich ferner ein willkuͤrlicher Muſkel, ſo lange man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man fuͤhrt deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem ſel- bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals demſelben ungehorſam ſind. Wir nikken damit tauſend und hundert tauſend mal, ohne daß die Seele eine beſon- dere Jdee dazu bekaͤme. Allein wir koͤnnen doch, wenn
es
(y*)[Spaltenumbruch]LANGRISCH mot. muſc. n. 12. 13.
(z) Jch wundere mich, daß dieſes Exempel hier angefuͤrt wird, vom David HARTLEY p. 106. daß ſie allmaͤlich den Gebrauch der Muſ- keln erlerne, und daß Kinder nicht hoͤren koͤnnen, weil ſie die ſchoͤnſte Muſik nicht lieben, ſchreibt CAR- DANUS in Tract. de ſubtilitate pag. 490. et HAMBERGERUS [Spaltenumbruch]
phyſiol. pag. 573. welcher aber nie geſehen haben mus, daß Kinder durch Singen eingewiegt werden.
(a)Add. n. 30.
(b) Eben dieſes erinnert der be- ruͤmte de LIGNAC lettre d’un Americain. T. VIII. pag. 153. und von der Fliege, die aus dem acarus wird SWAMMERDAM p. 716.
(c)REAUMUR des inſect. T. V. Mem. XI.
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III. Abſchnitt. Urſachen.
Sobald ſie daruͤber getadelt und geſtraft wurde, wollte
ſie lieber den Urin an ſich halten, und ſie wuſte ſich ihrer
Muſkeln zu bedienen. Folglich war das Weſen der
Schliesmuſkeln (y*) geſchikkt, daß ſie dem Willen gehor-
chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch dieſe ganze
Sache eine Sache der Kunſt iſt, und auf eine Verabre-
dung mit andern Menſchen ankoͤmmt.
Es ſtekkt aber in dieſer Sache etwas bewundernswuͤr-
diges, welches wir an einem andern Orte weitlaͤuftiger
erwaͤgen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will-
kuͤrlichen Muſkeln ſo wenig durch die Gewonheit, daß ſo-
wohl der Menſch, als das Thier, ſobald ſie an des Ta-
ges Licht kommen, diejenige Muſkeln, die bei ihnen voll-
kommen ſind, ohne eines andern Anweiſung, und ohne
Verſuche zu gebrauchen wiſſen (a).
Es thut uns nichts, daß man ein verſtelltes ſchwere
Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos
die Muſkeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen
ohnedem unterworfen ſind.
Es entzieht ſich ferner ein willkuͤrlicher Muſkel, ſo lange
man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man fuͤhrt
deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem ſel-
bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals
demſelben ungehorſam ſind. Wir nikken damit tauſend
und hundert tauſend mal, ohne daß die Seele eine beſon-
dere Jdee dazu bekaͤme. Allein wir koͤnnen doch, wenn
es
(y*)
LANGRISCH mot.
muſc. n. 12. 13.
(z) Jch wundere mich, daß dieſes
Exempel hier angefuͤrt wird, vom
David HARTLEY p. 106. daß
ſie allmaͤlich den Gebrauch der Muſ-
keln erlerne, und daß Kinder nicht
hoͤren koͤnnen, weil ſie die ſchoͤnſte
Muſik nicht lieben, ſchreibt CAR-
DANUS in Tract. de ſubtilitate
pag. 490. et HAMBERGERUS
phyſiol. pag. 573. welcher aber nie
geſehen haben mus, daß Kinder
durch Singen eingewiegt werden.
(a) Add. n. 30.
(b) Eben dieſes erinnert der be-
ruͤmte de LIGNAC lettre d’un
Americain. T. VIII. pag. 153. und
von der Fliege, die aus dem acarus
wird SWAMMERDAM p. 716.
(c) REAUMUR des inſect.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/161>, abgerufen am 25.11.2024.
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