Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Abschnitt. Ursachen.
Sobald sie darüber getadelt und gestraft wurde, wollte
sie lieber den Urin an sich halten, und sie wuste sich ihrer
Muskeln zu bedienen. Folglich war das Wesen der
Schliesmuskeln (y*) geschikkt, daß sie dem Willen gehor-
chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch diese ganze
Sache eine Sache der Kunst ist, und auf eine Verabre-
dung mit andern Menschen ankömmt.

Es stekkt aber in dieser Sache etwas bewundernswür-
diges, welches wir an einem andern Orte weitläuftiger
erwägen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will-
kürlichen Muskeln so wenig durch die Gewonheit, daß so-
wohl der Mensch, als das Thier, sobald sie an des Ta-
ges Licht kommen, diejenige Muskeln, die bei ihnen voll-
kommen sind, ohne eines andern Anweisung, und ohne
Versuche zu gebrauchen wissen (a).

Es thut uns nichts, daß man ein verstelltes schwere
Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos
die Muskeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen
ohnedem unterworfen sind.

Es entzieht sich ferner ein willkürlicher Muskel, so lange
man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man führt
deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem sel-
bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals
demselben ungehorsam sind. Wir nikken damit tausend
und hundert tausend mal, ohne daß die Seele eine beson-
dere Jdee dazu bekäme. Allein wir können doch, wenn

es
(y*) [Spaltenumbruch] LANGRISCH mot.
musc. n.
12. 13.
(z) Jch wundere mich, daß dieses
Exempel hier angefürt wird, vom
David HARTLEY p. 106. daß
sie allmälich den Gebrauch der Mus-
keln erlerne, und daß Kinder nicht
hören können, weil sie die schönste
Musik nicht lieben, schreibt CAR-
DANUS in Tract. de subtilitate
pag. 490. et HAMBERGERUS
[Spaltenumbruch] physiol. pag.
573. welcher aber nie
gesehen haben mus, daß Kinder
durch Singen eingewiegt werden.
(a) Add. n. 30.
(b) Eben dieses erinnert der be-
rümte de LIGNAC lettre d'un
Americain. T. VIII. pag.
153. und
von der Fliege, die aus dem acarus
wird SWAMMERDAM p. 716.
(c) REAUMUR des insect.
T. V. Mem. XI.

III. Abſchnitt. Urſachen.
Sobald ſie daruͤber getadelt und geſtraft wurde, wollte
ſie lieber den Urin an ſich halten, und ſie wuſte ſich ihrer
Muſkeln zu bedienen. Folglich war das Weſen der
Schliesmuſkeln (y*) geſchikkt, daß ſie dem Willen gehor-
chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch dieſe ganze
Sache eine Sache der Kunſt iſt, und auf eine Verabre-
dung mit andern Menſchen ankoͤmmt.

Es ſtekkt aber in dieſer Sache etwas bewundernswuͤr-
diges, welches wir an einem andern Orte weitlaͤuftiger
erwaͤgen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will-
kuͤrlichen Muſkeln ſo wenig durch die Gewonheit, daß ſo-
wohl der Menſch, als das Thier, ſobald ſie an des Ta-
ges Licht kommen, diejenige Muſkeln, die bei ihnen voll-
kommen ſind, ohne eines andern Anweiſung, und ohne
Verſuche zu gebrauchen wiſſen (a).

Es thut uns nichts, daß man ein verſtelltes ſchwere
Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos
die Muſkeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen
ohnedem unterworfen ſind.

Es entzieht ſich ferner ein willkuͤrlicher Muſkel, ſo lange
man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man fuͤhrt
deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem ſel-
bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals
demſelben ungehorſam ſind. Wir nikken damit tauſend
und hundert tauſend mal, ohne daß die Seele eine beſon-
dere Jdee dazu bekaͤme. Allein wir koͤnnen doch, wenn

es
(y*) [Spaltenumbruch] LANGRISCH mot.
muſc. n.
12. 13.
(z) Jch wundere mich, daß dieſes
Exempel hier angefuͤrt wird, vom
David HARTLEY p. 106. daß
ſie allmaͤlich den Gebrauch der Muſ-
keln erlerne, und daß Kinder nicht
hoͤren koͤnnen, weil ſie die ſchoͤnſte
Muſik nicht lieben, ſchreibt CAR-
DANUS in Tract. de ſubtilitate
pag. 490. et HAMBERGERUS
[Spaltenumbruch] phyſiol. pag.
573. welcher aber nie
geſehen haben mus, daß Kinder
durch Singen eingewiegt werden.
(a) Add. n. 30.
(b) Eben dieſes erinnert der be-
ruͤmte de LIGNAC lettre d’un
Americain. T. VIII. pag.
153. und
von der Fliege, die aus dem acarus
wird SWAMMERDAM p. 716.
(c) REAUMUR des inſect.
T. V. Mem. XI.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0161" n="143"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">III.</hi> Ab&#x017F;chnitt. Ur&#x017F;achen.</hi></fw><lb/>
Sobald &#x017F;ie daru&#x0364;ber getadelt und ge&#x017F;traft wurde, wollte<lb/>
&#x017F;ie lieber den Urin an &#x017F;ich halten, und &#x017F;ie wu&#x017F;te &#x017F;ich ihrer<lb/>
Mu&#x017F;keln zu bedienen. Folglich war das We&#x017F;en der<lb/>
Schliesmu&#x017F;keln <note place="foot" n="(y*)"><cb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">LANGRISCH</hi> mot.<lb/>
mu&#x017F;c. n.</hi> 12. 13.</note> ge&#x017F;chikkt, daß &#x017F;ie dem Willen gehor-<lb/>
chen konnten. Wir lernen reden <note place="foot" n="(z)">Jch wundere mich, daß die&#x017F;es<lb/>
Exempel hier angefu&#x0364;rt wird, vom<lb/><hi rendition="#aq">David <hi rendition="#g">HARTLEY</hi> p.</hi> 106. daß<lb/>
&#x017F;ie allma&#x0364;lich den Gebrauch der Mu&#x017F;-<lb/>
keln erlerne, und daß Kinder nicht<lb/>
ho&#x0364;ren ko&#x0364;nnen, weil &#x017F;ie die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
Mu&#x017F;ik nicht lieben, &#x017F;chreibt <hi rendition="#aq">CAR-<lb/>
DANUS in Tract. de &#x017F;ubtilitate<lb/>
pag. 490. et <hi rendition="#g">HAMBERGERUS</hi><lb/><cb/>
phy&#x017F;iol. pag.</hi> 573. welcher aber nie<lb/>
ge&#x017F;ehen haben mus, daß Kinder<lb/>
durch Singen eingewiegt werden.</note>, da doch die&#x017F;e ganze<lb/>
Sache eine Sache der Kun&#x017F;t i&#x017F;t, und auf eine Verabre-<lb/>
dung mit andern Men&#x017F;chen anko&#x0364;mmt.</p><lb/>
          <p>Es &#x017F;tekkt aber in die&#x017F;er Sache etwas bewundernswu&#x0364;r-<lb/>
diges, welches wir an einem andern Orte weitla&#x0364;uftiger<lb/>
erwa&#x0364;gen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will-<lb/>
ku&#x0364;rlichen Mu&#x017F;keln &#x017F;o wenig durch die Gewonheit, daß &#x017F;o-<lb/>
wohl der Men&#x017F;ch, als das Thier, &#x017F;obald &#x017F;ie an des Ta-<lb/>
ges Licht kommen, diejenige Mu&#x017F;keln, die bei ihnen voll-<lb/>
kommen &#x017F;ind, ohne eines andern Anwei&#x017F;ung, und ohne<lb/>
Ver&#x017F;uche zu gebrauchen wi&#x017F;&#x017F;en <note place="foot" n="(a)"><hi rendition="#aq">Add. n.</hi> 30.</note>.</p><lb/>
          <p>Es thut uns nichts, daß man ein ver&#x017F;telltes &#x017F;chwere<lb/>
Gebrechen aufzuzeigen hat <note place="foot" n="(b)">Eben die&#x017F;es erinnert der be-<lb/>
ru&#x0364;mte <hi rendition="#aq">de <hi rendition="#g">LIGNAC</hi> lettre d&#x2019;un<lb/>
Americain. T. VIII. pag.</hi> 153. und<lb/>
von der Fliege, die aus dem <hi rendition="#aq">acarus</hi><lb/>
wird <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">SWAMMERDAM</hi> p.</hi> 716.</note>. Denn hier werden blos<lb/>
die Mu&#x017F;keln in Bewegung gebracht, welche dem Willen<lb/>
ohnedem unterworfen &#x017F;ind.</p><lb/>
          <p>Es entzieht &#x017F;ich ferner ein willku&#x0364;rlicher Mu&#x017F;kel, &#x017F;o lange<lb/>
man lebt, niemals dem Befele des Willens <note place="foot" n="(c)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">REAUMUR</hi> des in&#x017F;ect.<lb/>
T. V. Mem. XI.</hi></note>. Man fu&#x0364;hrt<lb/>
deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem &#x017F;el-<lb/>
bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals<lb/>
dem&#x017F;elben ungehor&#x017F;am &#x017F;ind. Wir nikken damit tau&#x017F;end<lb/>
und hundert tau&#x017F;end mal, ohne daß die Seele eine be&#x017F;on-<lb/>
dere Jdee dazu beka&#x0364;me. Allein wir ko&#x0364;nnen doch, wenn<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">es</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0161] III. Abſchnitt. Urſachen. Sobald ſie daruͤber getadelt und geſtraft wurde, wollte ſie lieber den Urin an ſich halten, und ſie wuſte ſich ihrer Muſkeln zu bedienen. Folglich war das Weſen der Schliesmuſkeln (y*) geſchikkt, daß ſie dem Willen gehor- chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch dieſe ganze Sache eine Sache der Kunſt iſt, und auf eine Verabre- dung mit andern Menſchen ankoͤmmt. Es ſtekkt aber in dieſer Sache etwas bewundernswuͤr- diges, welches wir an einem andern Orte weitlaͤuftiger erwaͤgen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will- kuͤrlichen Muſkeln ſo wenig durch die Gewonheit, daß ſo- wohl der Menſch, als das Thier, ſobald ſie an des Ta- ges Licht kommen, diejenige Muſkeln, die bei ihnen voll- kommen ſind, ohne eines andern Anweiſung, und ohne Verſuche zu gebrauchen wiſſen (a). Es thut uns nichts, daß man ein verſtelltes ſchwere Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos die Muſkeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen ohnedem unterworfen ſind. Es entzieht ſich ferner ein willkuͤrlicher Muſkel, ſo lange man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man fuͤhrt deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem ſel- bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals demſelben ungehorſam ſind. Wir nikken damit tauſend und hundert tauſend mal, ohne daß die Seele eine beſon- dere Jdee dazu bekaͤme. Allein wir koͤnnen doch, wenn es (y*) LANGRISCH mot. muſc. n. 12. 13. (z) Jch wundere mich, daß dieſes Exempel hier angefuͤrt wird, vom David HARTLEY p. 106. daß ſie allmaͤlich den Gebrauch der Muſ- keln erlerne, und daß Kinder nicht hoͤren koͤnnen, weil ſie die ſchoͤnſte Muſik nicht lieben, ſchreibt CAR- DANUS in Tract. de ſubtilitate pag. 490. et HAMBERGERUS phyſiol. pag. 573. welcher aber nie geſehen haben mus, daß Kinder durch Singen eingewiegt werden. (a) Add. n. 30. (b) Eben dieſes erinnert der be- ruͤmte de LIGNAC lettre d’un Americain. T. VIII. pag. 153. und von der Fliege, die aus dem acarus wird SWAMMERDAM p. 716. (c) REAUMUR des inſect. T. V. Mem. XI.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/161
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/161>, abgerufen am 04.05.2024.