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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 1. Hamburg, 1742.

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"Einfälle und zugleich einen einförmigen Entwurf voll natürlicher
"Einfalt. Grössere Werke können nicht wohl ohne Unrichtigkeiten
"und Fehler der Unachtsamkeit seyn; aber ein Lied verliehret allen
"Glanz, wenn es nicht mit äusserster Sorgfalt poliret und ausge-
"putzet wird. Der geringste Fehler desselben gleichet einem Flecken
"in einem Edelgestein und benimmt ihm seinen ganzen Werth. Ein
"Lied ist gleichsam ein kleines Gemählde von Schmelzfarben, das
"alle feine Ausdrücke des Pinsels, einen Glanz, eine Glätte und
"endlich diejenigen zarten vollkommenen Ausbildungen erfordert,
"die in grössern und solchen Figuren, welche von der Stärke und
"Kühnheit einer meisterlichen Hand ihre ganze Schönheit erhalten,
"überflüssig und übel angewandt seyn würden.

"Da französische und englische Uebersetzungen vorhanden sind,
"deren Sie Sich bedienen können, so werden Sie mich wohl keiner
"Schulfüchserey beschuldigen, wenn ich Jhnen melde, daß Sappho,
"Anacreon und Horaz, in seinen kurzen lyrischen Gedichten, Muster
"kleiner Oden und Liederchen sind. Sie werden finden, daß die-
"se Alten in ihren Liedern gemeiniglich nur einen Gedanken aus-
"führen und solchen bis zu einem gewissen Ziele treiben, ohne, wie
"es den neuern Dichtern von diesem Orden so gewöhnlich ist, durch
"Nebendinge aufgehalten oder unterbrochen zu werden und auf Ab-
"wege zu gerathen. Man muß den Franzosen die Gerechtigkeit
"wiederfahren lassen und gestehen, daß unter den heutigen Spra-

chen
b 2

“Einfaͤlle und zugleich einen einfoͤrmigen Entwurf voll natuͤrlicher
“Einfalt. Groͤſſere Werke koͤnnen nicht wohl ohne Unrichtigkeiten
“und Fehler der Unachtſamkeit ſeyn; aber ein Lied verliehret allen
“Glanz, wenn es nicht mit aͤuſſerſter Sorgfalt poliret und ausge-
“putzet wird. Der geringſte Fehler deſſelben gleichet einem Flecken
“in einem Edelgeſtein und benimmt ihm ſeinen ganzen Werth. Ein
“Lied iſt gleichſam ein kleines Gemaͤhlde von Schmelzfarben, das
“alle feine Ausdruͤcke des Pinſels, einen Glanz, eine Glaͤtte und
“endlich diejenigen zarten vollkommenen Ausbildungen erfordert,
“die in groͤſſern und ſolchen Figuren, welche von der Staͤrke und
“Kuͤhnheit einer meiſterlichen Hand ihre ganze Schoͤnheit erhalten,
“uͤberfluͤſſig und uͤbel angewandt ſeyn wuͤrden.

“Da franzoͤſiſche und engliſche Ueberſetzungen vorhanden ſind,
“deren Sie Sich bedienen koͤnnen, ſo werden Sie mich wohl keiner
“Schulfuͤchſerey beſchuldigen, wenn ich Jhnen melde, daß Sappho,
“Anacreon und Horaz, in ſeinen kurzen lyriſchen Gedichten, Muſter
“kleiner Oden und Liederchen ſind. Sie werden finden, daß die-
“ſe Alten in ihren Liedern gemeiniglich nur einen Gedanken aus-
“fuͤhren und ſolchen bis zu einem gewiſſen Ziele treiben, ohne, wie
“es den neuern Dichtern von dieſem Orden ſo gewoͤhnlich iſt, durch
“Nebendinge aufgehalten oder unterbrochen zu werden und auf Ab-
“wege zu gerathen. Man muß den Franzoſen die Gerechtigkeit
“wiederfahren laſſen und geſtehen, daß unter den heutigen Spra-

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[0015] “Einfaͤlle und zugleich einen einfoͤrmigen Entwurf voll natuͤrlicher “Einfalt. Groͤſſere Werke koͤnnen nicht wohl ohne Unrichtigkeiten “und Fehler der Unachtſamkeit ſeyn; aber ein Lied verliehret allen “Glanz, wenn es nicht mit aͤuſſerſter Sorgfalt poliret und ausge- “putzet wird. Der geringſte Fehler deſſelben gleichet einem Flecken “in einem Edelgeſtein und benimmt ihm ſeinen ganzen Werth. Ein “Lied iſt gleichſam ein kleines Gemaͤhlde von Schmelzfarben, das “alle feine Ausdruͤcke des Pinſels, einen Glanz, eine Glaͤtte und “endlich diejenigen zarten vollkommenen Ausbildungen erfordert, “die in groͤſſern und ſolchen Figuren, welche von der Staͤrke und “Kuͤhnheit einer meiſterlichen Hand ihre ganze Schoͤnheit erhalten, “uͤberfluͤſſig und uͤbel angewandt ſeyn wuͤrden. “Da franzoͤſiſche und engliſche Ueberſetzungen vorhanden ſind, “deren Sie Sich bedienen koͤnnen, ſo werden Sie mich wohl keiner “Schulfuͤchſerey beſchuldigen, wenn ich Jhnen melde, daß Sappho, “Anacreon und Horaz, in ſeinen kurzen lyriſchen Gedichten, Muſter “kleiner Oden und Liederchen ſind. Sie werden finden, daß die- “ſe Alten in ihren Liedern gemeiniglich nur einen Gedanken aus- “fuͤhren und ſolchen bis zu einem gewiſſen Ziele treiben, ohne, wie “es den neuern Dichtern von dieſem Orden ſo gewoͤhnlich iſt, durch “Nebendinge aufgehalten oder unterbrochen zu werden und auf Ab- “wege zu gerathen. Man muß den Franzoſen die Gerechtigkeit “wiederfahren laſſen und geſtehen, daß unter den heutigen Spra- chen b 2

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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 1. Hamburg, 1742, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung01_1742/15>, abgerufen am 20.04.2024.