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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVIII. Religion der Schönheit.
Regel", welche diese Gebote in einem Satze zusammenfaßt,
Jahrhunderte älter als das Christenthum. In der Praxis des
Lebens aber wurde dieses natürliche Sittengesetz ebenso oft von
Atheisten und Nichtchristen sorgsam befolgt als von frommen,
gläubigen Christen außer Acht gelassen. Uebrigens beging die
christliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem sie einseitig
den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen
verwarf. Unsere monistische Ethik legt beiden gleichen
Werth bei und findet die vollkommene Tugend in dem richtigen
Gleichgewicht von Nächstenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Ka-
pitel 19: Das ethische Grundgesetz, S. 404-407.)

III. Das Ideal der Schönheit. In größten Gegensatz
zum Christenthum tritt unser Monismus auf dem Gebiete der
Schönheit. Das ursprüngliche, reine Christenthum predigte die
Werthlosigkeit des irdischen Lebens und betrachtete dasselbe bloß
als eine Vorbereitung für das ewige Leben im "Jenseits".
Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das menschliche Leben
im "Diesseits" darbietet, alles Schöne in Kunst und Wissen-
schaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Werth besitzt.
Der wahre Christ muß sich von ihm abwenden und nur daran
denken, sich für das Jenseits würdig vorzubereiten. Die Ver-
achtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerschöpf-
lichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von schöner Kunst
sind echte Christen-Pflichten; diese würden am vollkommensten
erfüllt, wenn der Mensch sich von seinen Mitmenschen absonderte,
sich kasteite und in Klöstern oder Einsiedeleien ausschließlich mit
der "Anbetung Gottes" beschäftigte.

Nun lehrt uns freilich die Kulturgeschichte, daß diese asketische
Christen-Moral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche
Folge das Gegentheil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der
Keuschheit und Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten
Orgien; der sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte

XVIII. Religion der Schönheit.
Regel“, welche dieſe Gebote in einem Satze zuſammenfaßt,
Jahrhunderte älter als das Chriſtenthum. In der Praxis des
Lebens aber wurde dieſes natürliche Sittengeſetz ebenſo oft von
Atheiſten und Nichtchriſten ſorgſam befolgt als von frommen,
gläubigen Chriſten außer Acht gelaſſen. Uebrigens beging die
chriſtliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem ſie einſeitig
den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen
verwarf. Unſere moniſtiſche Ethik legt beiden gleichen
Werth bei und findet die vollkommene Tugend in dem richtigen
Gleichgewicht von Nächſtenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Ka-
pitel 19: Das ethiſche Grundgeſetz, S. 404-407.)

III. Das Ideal der Schönheit. In größten Gegenſatz
zum Chriſtenthum tritt unſer Monismus auf dem Gebiete der
Schönheit. Das urſprüngliche, reine Chriſtenthum predigte die
Werthloſigkeit des irdiſchen Lebens und betrachtete dasſelbe bloß
als eine Vorbereitung für das ewige Leben im „Jenſeits“.
Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das menſchliche Leben
im „Diesſeits“ darbietet, alles Schöne in Kunſt und Wiſſen-
ſchaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Werth beſitzt.
Der wahre Chriſt muß ſich von ihm abwenden und nur daran
denken, ſich für das Jenſeits würdig vorzubereiten. Die Ver-
achtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerſchöpf-
lichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von ſchöner Kunſt
ſind echte Chriſten-Pflichten; dieſe würden am vollkommenſten
erfüllt, wenn der Menſch ſich von ſeinen Mitmenſchen abſonderte,
ſich kaſteite und in Klöſtern oder Einſiedeleien ausſchließlich mit
der „Anbetung Gottes“ beſchäftigte.

Nun lehrt uns freilich die Kulturgeſchichte, daß dieſe asketiſche
Chriſten-Moral, die aller Natur Hohn ſprach, als natürliche
Folge das Gegentheil bewirkte. Die Klöſter, die Aſyle der
Keuſchheit und Zucht, wurden bald die Brutſtätten der tollſten
Orgien; der ſexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte

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[391/0407] XVIII. Religion der Schönheit. Regel“, welche dieſe Gebote in einem Satze zuſammenfaßt, Jahrhunderte älter als das Chriſtenthum. In der Praxis des Lebens aber wurde dieſes natürliche Sittengeſetz ebenſo oft von Atheiſten und Nichtchriſten ſorgſam befolgt als von frommen, gläubigen Chriſten außer Acht gelaſſen. Uebrigens beging die chriſtliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem ſie einſeitig den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen verwarf. Unſere moniſtiſche Ethik legt beiden gleichen Werth bei und findet die vollkommene Tugend in dem richtigen Gleichgewicht von Nächſtenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Ka- pitel 19: Das ethiſche Grundgeſetz, S. 404-407.) III. Das Ideal der Schönheit. In größten Gegenſatz zum Chriſtenthum tritt unſer Monismus auf dem Gebiete der Schönheit. Das urſprüngliche, reine Chriſtenthum predigte die Werthloſigkeit des irdiſchen Lebens und betrachtete dasſelbe bloß als eine Vorbereitung für das ewige Leben im „Jenſeits“. Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das menſchliche Leben im „Diesſeits“ darbietet, alles Schöne in Kunſt und Wiſſen- ſchaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Werth beſitzt. Der wahre Chriſt muß ſich von ihm abwenden und nur daran denken, ſich für das Jenſeits würdig vorzubereiten. Die Ver- achtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerſchöpf- lichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von ſchöner Kunſt ſind echte Chriſten-Pflichten; dieſe würden am vollkommenſten erfüllt, wenn der Menſch ſich von ſeinen Mitmenſchen abſonderte, ſich kaſteite und in Klöſtern oder Einſiedeleien ausſchließlich mit der „Anbetung Gottes“ beſchäftigte. Nun lehrt uns freilich die Kulturgeſchichte, daß dieſe asketiſche Chriſten-Moral, die aller Natur Hohn ſprach, als natürliche Folge das Gegentheil bewirkte. Die Klöſter, die Aſyle der Keuſchheit und Zucht, wurden bald die Brutſtätten der tollſten Orgien; der ſexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/407>, abgerufen am 23.11.2024.