Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Religion der Tugend. XVIII. Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftendenchristlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herr- lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, sind die liebevolle Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Be- obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleskops, der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroskops; -- aber nicht sinnlose Andachts-Uebungen und gedankenlose Gebete, nicht die Opfergaben des Ablasses und der Peterspfennige. Die kost- baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beschenkt, sind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der unschätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, -- aber nicht der Glaube an übernatürliche "Wunder" und das Wahngebilde eines "ewigen Lebens". II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig Religion der Tugend. XVIII. Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftendenchriſtlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieſer herr- lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, ſind die liebevolle Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, die Be- obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleſkops, der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroſkops; — aber nicht ſinnloſe Andachts-Uebungen und gedankenloſe Gebete, nicht die Opfergaben des Ablaſſes und der Peterspfennige. Die koſt- baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beſchenkt, ſind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der unſchätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanſchauung, — aber nicht der Glaube an übernatürliche „Wunder“ und das Wahngebilde eines „ewigen Lebens“. II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0406" n="390"/><fw place="top" type="header">Religion der Tugend. <hi rendition="#aq">XVIII.</hi></fw><lb/> Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden<lb/> chriſtlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieſer herr-<lb/> lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, ſind die<lb/> liebevolle Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, die Be-<lb/> obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleſkops,<lb/> der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroſkops; — aber<lb/> nicht ſinnloſe Andachts-Uebungen und gedankenloſe Gebete, nicht<lb/> die Opfergaben des Ablaſſes und der Peterspfennige. Die koſt-<lb/> baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beſchenkt,<lb/> ſind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der<lb/> unſchätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanſchauung, —<lb/> aber nicht der Glaube an übernatürliche „Wunder“ und das<lb/> Wahngebilde eines „ewigen Lebens“.</p><lb/> <p><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Das Ideal der Tugend.</hi> Anders als mit dem ewig<lb/> Wahren verhält es ſich mit dem Gottes-Ideal des ewig Guten.<lb/> Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der<lb/> Kirche völlig auszuſchließen und allein die Erforſchung der Natur<lb/> zu befragen iſt, fällt dagegen der Inbegriff des <hi rendition="#g">Guten,</hi> den<lb/> wir Tugend nennen, in unſerer moniſtiſchen Religion größten-<lb/> theils mit der chriſtlichen Tugend zuſammen; natürlich gilt das<lb/> nur von dem urſprünglichen, reinen Chriſtenthum der drei erſten<lb/> Jahrhunderte, wie deſſen Tugendlehren in den Evangelien und in<lb/> den pauliniſchen Briefen niedergelegt ſind; — es gilt aber nicht<lb/> von der vatikaniſchen Karikatur jener reinen Lehre, welche die<lb/> europäiſche Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf<lb/> Jahrhunderte beherrſcht hat. Den beſten Theil der chriſtlichen<lb/> Moral, an dem wir feſthalten, bilden die Humanitäts-Gebote<lb/> der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur ſind<lb/> dieſe edlen Pflichtgebote, die man als „chriſtliche Moral“ (im<lb/> beſten Sinne!) zuſammenfaßt, keine neuen Erfindungen des<lb/> Chriſtenthums, ſondern ſie ſind von dieſem aus älteren Religions-<lb/> formen herübergenommen. In der That iſt ja die „<hi rendition="#g">Goldene</hi><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [390/0406]
Religion der Tugend. XVIII.
Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden
chriſtlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieſer herr-
lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, ſind die
liebevolle Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, die Be-
obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleſkops,
der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroſkops; — aber
nicht ſinnloſe Andachts-Uebungen und gedankenloſe Gebete, nicht
die Opfergaben des Ablaſſes und der Peterspfennige. Die koſt-
baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beſchenkt,
ſind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der
unſchätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanſchauung, —
aber nicht der Glaube an übernatürliche „Wunder“ und das
Wahngebilde eines „ewigen Lebens“.
II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig
Wahren verhält es ſich mit dem Gottes-Ideal des ewig Guten.
Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der
Kirche völlig auszuſchließen und allein die Erforſchung der Natur
zu befragen iſt, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den
wir Tugend nennen, in unſerer moniſtiſchen Religion größten-
theils mit der chriſtlichen Tugend zuſammen; natürlich gilt das
nur von dem urſprünglichen, reinen Chriſtenthum der drei erſten
Jahrhunderte, wie deſſen Tugendlehren in den Evangelien und in
den pauliniſchen Briefen niedergelegt ſind; — es gilt aber nicht
von der vatikaniſchen Karikatur jener reinen Lehre, welche die
europäiſche Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf
Jahrhunderte beherrſcht hat. Den beſten Theil der chriſtlichen
Moral, an dem wir feſthalten, bilden die Humanitäts-Gebote
der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur ſind
dieſe edlen Pflichtgebote, die man als „chriſtliche Moral“ (im
beſten Sinne!) zuſammenfaßt, keine neuen Erfindungen des
Chriſtenthums, ſondern ſie ſind von dieſem aus älteren Religions-
formen herübergenommen. In der That iſt ja die „Goldene
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