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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Christliche Kunst. XVIII.
massenhaft Novellen, wie sie die Literatur der Renaissance sehr
naturwahr geschildert hat. Der Kultus der "Schönheit", der
hier getrieben wurde, stand mit der gepredigten "Weltentsagung"
in schneidendem Widerspruch, und dasselbe gilt von dem Luxus
und der Pracht, welche sich bald in dem sittenlosen Privatleben
des höheren katholischen Klerus und in der künstlerischen Aus-
schmückung der christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.

Christliche Kunst. Man wird hier einwenden, daß unsere
Ansicht durch die Schönheitsfülle der christlichen Kunst widerlegt
werde, welche besonders in der Blüthezeit des Mittelalters so
unvergängliche Werke schuf. Die prachtvollen gothischen Dome
und byzantinischen Basiliken, die Hunderte von prächtigen Ka-
pellen, die Tausende von Marmor-Statuen christlicher Heiligen
und Märtyrer, die Millionen von schönen Heiligenbildern, von
tiefempfundenen Darstellungen von Christus und der Madonna --
sie zeugen alle von einer Entwickelung der schönen Künste im
Mittelalter, die in ihrer Art einzig ist. Alle diese herrlichen
Denkmäler der bildenden Kunst, ebenso wie die der Dichtkunst,
behalten ihren hohen ästhetischen Werth, gleichviel, wie wir die
darin enthaltene Mischung von "Wahrheit und Dichtung" be-
urtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen Christenlehre
zu thun? Mit jener Religion der Entsagung, welche von allem
irdischen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und
Kunst sich abwendete, welche das Familienleben und die Frauen-
liebe gering schätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen
Güter des "ewigen Lebens" predigte? Der Begriff der "christ-
lichen Kunst" ist eigentlich ein Widerspruch in sich, ein "Con-
tradictio in adjecto
"
. Die reichen Kirchenfürsten freilich,
welche dieselben pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke,
und sie erreichten sie auch vollständig. Indem sie das ganze
Interesse und Streben des menschlichen Geistes im Mittelalter
auf die christliche Kirche und deren eigenthümliche Kunst

Chriſtliche Kunſt. XVIII.
maſſenhaft Novellen, wie ſie die Literatur der Renaiſſance ſehr
naturwahr geſchildert hat. Der Kultus der „Schönheit“, der
hier getrieben wurde, ſtand mit der gepredigten „Weltentſagung“
in ſchneidendem Widerſpruch, und dasſelbe gilt von dem Luxus
und der Pracht, welche ſich bald in dem ſittenloſen Privatleben
des höheren katholiſchen Klerus und in der künſtleriſchen Aus-
ſchmückung der chriſtlichen Kirchen und Klöſter entwickelten.

Chriſtliche Kunſt. Man wird hier einwenden, daß unſere
Anſicht durch die Schönheitsfülle der chriſtlichen Kunſt widerlegt
werde, welche beſonders in der Blüthezeit des Mittelalters ſo
unvergängliche Werke ſchuf. Die prachtvollen gothiſchen Dome
und byzantiniſchen Baſiliken, die Hunderte von prächtigen Ka-
pellen, die Tauſende von Marmor-Statuen chriſtlicher Heiligen
und Märtyrer, die Millionen von ſchönen Heiligenbildern, von
tiefempfundenen Darſtellungen von Chriſtus und der Madonna —
ſie zeugen alle von einer Entwickelung der ſchönen Künſte im
Mittelalter, die in ihrer Art einzig iſt. Alle dieſe herrlichen
Denkmäler der bildenden Kunſt, ebenſo wie die der Dichtkunſt,
behalten ihren hohen äſthetiſchen Werth, gleichviel, wie wir die
darin enthaltene Miſchung von „Wahrheit und Dichtung“ be-
urtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen Chriſtenlehre
zu thun? Mit jener Religion der Entſagung, welche von allem
irdiſchen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und
Kunſt ſich abwendete, welche das Familienleben und die Frauen-
liebe gering ſchätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen
Güter des „ewigen Lebens“ predigte? Der Begriff der „chriſt-
lichen Kunſt“ iſt eigentlich ein Widerſpruch in ſich, ein Con-
tradictio in adjecto
. Die reichen Kirchenfürſten freilich,
welche dieſelben pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke,
und ſie erreichten ſie auch vollſtändig. Indem ſie das ganze
Intereſſe und Streben des menſchlichen Geiſtes im Mittelalter
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[392/0408] Chriſtliche Kunſt. XVIII. maſſenhaft Novellen, wie ſie die Literatur der Renaiſſance ſehr naturwahr geſchildert hat. Der Kultus der „Schönheit“, der hier getrieben wurde, ſtand mit der gepredigten „Weltentſagung“ in ſchneidendem Widerſpruch, und dasſelbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche ſich bald in dem ſittenloſen Privatleben des höheren katholiſchen Klerus und in der künſtleriſchen Aus- ſchmückung der chriſtlichen Kirchen und Klöſter entwickelten. Chriſtliche Kunſt. Man wird hier einwenden, daß unſere Anſicht durch die Schönheitsfülle der chriſtlichen Kunſt widerlegt werde, welche beſonders in der Blüthezeit des Mittelalters ſo unvergängliche Werke ſchuf. Die prachtvollen gothiſchen Dome und byzantiniſchen Baſiliken, die Hunderte von prächtigen Ka- pellen, die Tauſende von Marmor-Statuen chriſtlicher Heiligen und Märtyrer, die Millionen von ſchönen Heiligenbildern, von tiefempfundenen Darſtellungen von Chriſtus und der Madonna — ſie zeugen alle von einer Entwickelung der ſchönen Künſte im Mittelalter, die in ihrer Art einzig iſt. Alle dieſe herrlichen Denkmäler der bildenden Kunſt, ebenſo wie die der Dichtkunſt, behalten ihren hohen äſthetiſchen Werth, gleichviel, wie wir die darin enthaltene Miſchung von „Wahrheit und Dichtung“ be- urtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen Chriſtenlehre zu thun? Mit jener Religion der Entſagung, welche von allem irdiſchen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und Kunſt ſich abwendete, welche das Familienleben und die Frauen- liebe gering ſchätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen Güter des „ewigen Lebens“ predigte? Der Begriff der „chriſt- lichen Kunſt“ iſt eigentlich ein Widerſpruch in ſich, ein „Con- tradictio in adjecto“. Die reichen Kirchenfürſten freilich, welche dieſelben pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke, und ſie erreichten ſie auch vollſtändig. Indem ſie das ganze Intereſſe und Streben des menſchlichen Geiſtes im Mittelalter auf die chriſtliche Kirche und deren eigenthümliche Kunſt

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/408>, abgerufen am 27.11.2024.