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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Das moderne Scheinchristenthum. XVII.
Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale
Protestantismus hingegen verflüchtigte sich immer mehr zu
einem monistischen Pantheismus und strebte nach Versöhnung
der beiden entgegengesetzten Principien; er suchte die unver-
meidliche Anerkennung der empirisch bewiesenen Naturgesetze und
der daraus gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer ge-
läuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der
eigentlichen Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen
beiden Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromiß-Versuche;
darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die
Ueberzeugung, daß das dogmatische Christenthum überhaupt
jeden Boden verloren habe, und daß man nur seinen werth-
vollen ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des
20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig
die gegebenen äußeren Formen der herrschenden christlichen
Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen
politischen Entwickelung mit den praktischen Bedürfnissen des
Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene weit-
verbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise, die
wir nur als Scheinchristenthum bezeichnen können -- im
Grunde eine "religiöse Lüge" bedenklichster Art. Die großen
Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren Ueber-
zeugung und dem falschen Bekenntniß der modernen Schein-
christen mit sich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau ge-
schildert in seinem interessanten Werke: "Die Konventionellen
Lügen der Kulturmenschheit
" (1883; XII. Auflage 1886).

Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herr-
schenden Scheinchristenthums ist es für den Fortschritt der
vernunftgemäßen Naturerkenntniß sehr werthvoll, daß dessen
mächtigster und entschiedenster Gegner, der Papismus, um
die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske angeblicher
höherer Geistesbildung abgeworfen und der selbständigen

Das moderne Scheinchriſtenthum. XVII.
Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale
Proteſtantismus hingegen verflüchtigte ſich immer mehr zu
einem moniſtiſchen Pantheismus und ſtrebte nach Verſöhnung
der beiden entgegengeſetzten Principien; er ſuchte die unver-
meidliche Anerkennung der empiriſch bewieſenen Naturgeſetze und
der daraus gefolgerten philoſophiſchen Schlüſſe mit einer ge-
läuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der
eigentlichen Glaubenslehre faſt nichts mehr übrig blieb. Zwiſchen
beiden Extremen bewegten ſich zahlreiche Kompromiß-Verſuche;
darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreiſe die
Ueberzeugung, daß das dogmatiſche Chriſtenthum überhaupt
jeden Boden verloren habe, und daß man nur ſeinen werth-
vollen ethiſchen Inhalt in die neue, moniſtiſche Religion des
20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig
die gegebenen äußeren Formen der herrſchenden chriſtlichen
Religion fortbeſtanden, da ſie ſogar trotz der fortgeſchrittenen
politiſchen Entwickelung mit den praktiſchen Bedürfniſſen des
Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte ſich jene weit-
verbreitete religiöſe Weltanſchauung der gebildeten Kreiſe, die
wir nur als Scheinchriſtenthum bezeichnen können — im
Grunde eine „religiöſe Lüge“ bedenklichſter Art. Die großen
Gefahren, welche dieſer tiefe Konflikt zwiſchen der wahren Ueber-
zeugung und dem falſchen Bekenntniß der modernen Schein-
chriſten mit ſich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau ge-
ſchildert in ſeinem intereſſanten Werke: „Die Konventionellen
Lügen der Kulturmenſchheit
“ (1883; XII. Auflage 1886).

Inmitten dieſer offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herr-
ſchenden Scheinchriſtenthums iſt es für den Fortſchritt der
vernunftgemäßen Naturerkenntniß ſehr werthvoll, daß deſſen
mächtigſter und entſchiedenſter Gegner, der Papismus, um
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[372/0388] Das moderne Scheinchriſtenthum. XVII. Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale Proteſtantismus hingegen verflüchtigte ſich immer mehr zu einem moniſtiſchen Pantheismus und ſtrebte nach Verſöhnung der beiden entgegengeſetzten Principien; er ſuchte die unver- meidliche Anerkennung der empiriſch bewieſenen Naturgeſetze und der daraus gefolgerten philoſophiſchen Schlüſſe mit einer ge- läuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen Glaubenslehre faſt nichts mehr übrig blieb. Zwiſchen beiden Extremen bewegten ſich zahlreiche Kompromiß-Verſuche; darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreiſe die Ueberzeugung, daß das dogmatiſche Chriſtenthum überhaupt jeden Boden verloren habe, und daß man nur ſeinen werth- vollen ethiſchen Inhalt in die neue, moniſtiſche Religion des 20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebenen äußeren Formen der herrſchenden chriſtlichen Religion fortbeſtanden, da ſie ſogar trotz der fortgeſchrittenen politiſchen Entwickelung mit den praktiſchen Bedürfniſſen des Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte ſich jene weit- verbreitete religiöſe Weltanſchauung der gebildeten Kreiſe, die wir nur als Scheinchriſtenthum bezeichnen können — im Grunde eine „religiöſe Lüge“ bedenklichſter Art. Die großen Gefahren, welche dieſer tiefe Konflikt zwiſchen der wahren Ueber- zeugung und dem falſchen Bekenntniß der modernen Schein- chriſten mit ſich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau ge- ſchildert in ſeinem intereſſanten Werke: „Die Konventionellen Lügen der Kulturmenſchheit“ (1883; XII. Auflage 1886). Inmitten dieſer offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herr- ſchenden Scheinchriſtenthums iſt es für den Fortſchritt der vernunftgemäßen Naturerkenntniß ſehr werthvoll, daß deſſen mächtigſter und entſchiedenſter Gegner, der Papismus, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske angeblicher höherer Geiſtesbildung abgeworfen und der ſelbſtändigen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/388>, abgerufen am 23.11.2024.