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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVI. Theorie und Glaube.
in der modernen sogenannten "exakten Naturwissenschaft" geschieht),
der verzichtet damit auf die Erkenntniß der Ursachen überhaupt
und somit auf die Befriedigung des Kausalitäts-Bedürfnisses der
Vernunft.

Die Gravitations-Theorie in der Astronomie (Newton),
die kosmologische Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und
Laplace), das Energie-Princip in der Physik (Mayer und
Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die
Vibrations-Theorie in der Optik (Huyghens), die Zellen-Theorie
in der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die Descendenz-
Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) sind gewaltige
Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze Welt von großen
Natur-Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen
Ursache
für alle einzelnen Thatsachen ihres Gebietes und durch
den Nachweis, daß alle Erscheinungen in demselben zusammen-
hängen und durch feste, von dieser einen Ursache ausgehende
Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese Ursache selbst
ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine "provisorische Hypo-
these" sein. Die "Schwerkraft" in der Gravitations-Theorie
und in der Kosmogenie, die "Energie" selbst in ihrem Ver-
hältniß zur Materie, der "Aether" in der Optik und Elektrik,
das "Atom" in der Chemie, das lebendige "Plasma" in der
Zellenlehre, die "Vererbung" in der Abstammungslehre --
diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien
können von der skeptischen Philosophie als "bloße Hypothesen",
als Erzeugnisse des wissenschaftlichen Glaubens betrachtet
werden, aber sie bleiben uns als solche unentbehrlich, so
lange, bis sie durch eine bessere Hypothese ersetzt werden.

Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als diese
Formen des wissenschaftlichen Glaubens sind diejenigen Vor-
stellungen, welche in den verschiedenen Religionen zur Er-
klärung der Erscheinungen benutzt und schlechtweg als Glaube

XVI. Theorie und Glaube.
in der modernen ſogenannten „exakten Naturwiſſenſchaft“ geſchieht),
der verzichtet damit auf die Erkenntniß der Urſachen überhaupt
und ſomit auf die Befriedigung des Kauſalitäts-Bedürfniſſes der
Vernunft.

Die Gravitations-Theorie in der Aſtronomie (Newton),
die kosmologiſche Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und
Laplace), das Energie-Princip in der Phyſik (Mayer und
Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die
Vibrations-Theorie in der Optik (Huyghens), die Zellen-Theorie
in der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die Deſcendenz-
Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) ſind gewaltige
Theorien erſten Ranges; ſie erklären eine ganze Welt von großen
Natur-Erſcheinungen durch Annahme einer gemeinſamen
Urſache
für alle einzelnen Thatſachen ihres Gebietes und durch
den Nachweis, daß alle Erſcheinungen in demſelben zuſammen-
hängen und durch feſte, von dieſer einen Urſache ausgehende
Geſetze geregelt werden. Dabei kann aber dieſe Urſache ſelbſt
ihrem Weſen nach unbekannt oder nur eine „proviſoriſche Hypo-
theſe“ ſein. Die „Schwerkraft“ in der Gravitations-Theorie
und in der Kosmogenie, die „Energie“ ſelbſt in ihrem Ver-
hältniß zur Materie, der „Aether“ in der Optik und Elektrik,
das „Atom“ in der Chemie, das lebendige „Plasma“ in der
Zellenlehre, die „Vererbung“ in der Abſtammungslehre —
dieſe und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien
können von der ſkeptiſchen Philoſophie als „bloße Hypotheſen“,
als Erzeugniſſe des wiſſenſchaftlichen Glaubens betrachtet
werden, aber ſie bleiben uns als ſolche unentbehrlich, ſo
lange, bis ſie durch eine beſſere Hypotheſe erſetzt werden.

Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als dieſe
Formen des wiſſenſchaftlichen Glaubens ſind diejenigen Vor-
ſtellungen, welche in den verſchiedenen Religionen zur Er-
klärung der Erſcheinungen benutzt und ſchlechtweg als Glaube

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[347/0363] XVI. Theorie und Glaube. in der modernen ſogenannten „exakten Naturwiſſenſchaft“ geſchieht), der verzichtet damit auf die Erkenntniß der Urſachen überhaupt und ſomit auf die Befriedigung des Kauſalitäts-Bedürfniſſes der Vernunft. Die Gravitations-Theorie in der Aſtronomie (Newton), die kosmologiſche Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und Laplace), das Energie-Princip in der Phyſik (Mayer und Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die Vibrations-Theorie in der Optik (Huyghens), die Zellen-Theorie in der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die Deſcendenz- Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) ſind gewaltige Theorien erſten Ranges; ſie erklären eine ganze Welt von großen Natur-Erſcheinungen durch Annahme einer gemeinſamen Urſache für alle einzelnen Thatſachen ihres Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erſcheinungen in demſelben zuſammen- hängen und durch feſte, von dieſer einen Urſache ausgehende Geſetze geregelt werden. Dabei kann aber dieſe Urſache ſelbſt ihrem Weſen nach unbekannt oder nur eine „proviſoriſche Hypo- theſe“ ſein. Die „Schwerkraft“ in der Gravitations-Theorie und in der Kosmogenie, die „Energie“ ſelbſt in ihrem Ver- hältniß zur Materie, der „Aether“ in der Optik und Elektrik, das „Atom“ in der Chemie, das lebendige „Plasma“ in der Zellenlehre, die „Vererbung“ in der Abſtammungslehre — dieſe und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien können von der ſkeptiſchen Philoſophie als „bloße Hypotheſen“, als Erzeugniſſe des wiſſenſchaftlichen Glaubens betrachtet werden, aber ſie bleiben uns als ſolche unentbehrlich, ſo lange, bis ſie durch eine beſſere Hypotheſe erſetzt werden. Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als dieſe Formen des wiſſenſchaftlichen Glaubens ſind diejenigen Vor- ſtellungen, welche in den verſchiedenen Religionen zur Er- klärung der Erſcheinungen benutzt und ſchlechtweg als Glaube

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/363>, abgerufen am 23.11.2024.