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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Unvollkommenheit der Organisation. XIV.

Unvollkommenheit der Natur. Wie das Menschen-Leben
so bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall
unvollkommen. Diese Thatsache ergibt sich einfach aus der Er-
kenntniß, daß die Natur -- ebenso die organische wie die an-
organische -- in einem beständigen Flusse der Entwickelung,
der Veränderung und Umbildung begriffen ist. Diese Entwickelung
erscheint uns im Großen und Ganzen -- wenigstens soweit wir
die Stammesgeschichte der organischen Natur auf unserem
Planeten übersehen können -- als eine fortschreitende Um-
bildung, als ein historischer Fortschritt vom Einfachen zum
Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvoll-
kommenen zum Vollkommenen. Ich habe schon in der Generellen
Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß dieser historische
Fortschritt (Progressus) -- oder die allmähliche Ver-
vollkommnung (Teleosis)
-- die nothwendige Wir-
kung der Selektion
ist, nicht aber die Folge eines vorbedachten
Zweckes. Das ergibt sich auch daraus, daß kein Organismus
ganz vollkommen ist; selbst wenn er in einem gegebenen Augen-
blicke den Umständen vollkommen angepaßt wäre, würde dieser
Zustand nicht lange dauern; denn die Existenz-Bedingungen der
Außenwelt sind selbst einem beständigen Wechsel unterworfen und
bedingen damit eine ununterbrochene Anpassung der Organismen.

Zielstrebigkeit in den organischen Körpern insbesondere.
Unter diesem Titel veröffentlichte der berühmte Embryologe
Karl Ernst Baer 1876 einen Aufsatz, der im Zusammen-
hang mit dem nachfolgenden Artikel über Darwin's Lehre
den Gegnern derselben sehr willkommen erschien und auch heute
noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie verwerthet
wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologische Naturbetrachtung
unter einem neuen Namen; dieser muß hier einer kurzen Kritik
unterzogen werden. Vorauszuschicken ist dabei der Hinweis, daß
Baer zwar ein Naturphilosoph im besten Sinne war, daß aber

Unvollkommenheit der Organiſation. XIV.

Unvollkommenheit der Natur. Wie das Menſchen-Leben
ſo bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall
unvollkommen. Dieſe Thatſache ergibt ſich einfach aus der Er-
kenntniß, daß die Natur — ebenſo die organiſche wie die an-
organiſche — in einem beſtändigen Fluſſe der Entwickelung,
der Veränderung und Umbildung begriffen iſt. Dieſe Entwickelung
erſcheint uns im Großen und Ganzen — wenigſtens ſoweit wir
die Stammesgeſchichte der organiſchen Natur auf unſerem
Planeten überſehen können — als eine fortſchreitende Um-
bildung, als ein hiſtoriſcher Fortſchritt vom Einfachen zum
Zuſammengeſetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvoll-
kommenen zum Vollkommenen. Ich habe ſchon in der Generellen
Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß dieſer hiſtoriſche
Fortſchritt (Progreſſuſ) — oder die allmähliche Ver-
vollkommnung (Teleoſiſ)
— die nothwendige Wir-
kung der Selektion
iſt, nicht aber die Folge eines vorbedachten
Zweckes. Das ergibt ſich auch daraus, daß kein Organismus
ganz vollkommen iſt; ſelbſt wenn er in einem gegebenen Augen-
blicke den Umſtänden vollkommen angepaßt wäre, würde dieſer
Zuſtand nicht lange dauern; denn die Exiſtenz-Bedingungen der
Außenwelt ſind ſelbſt einem beſtändigen Wechſel unterworfen und
bedingen damit eine ununterbrochene Anpaſſung der Organismen.

Zielſtrebigkeit in den organiſchen Körpern insbeſondere.
Unter dieſem Titel veröffentlichte der berühmte Embryologe
Karl Ernſt Baer 1876 einen Aufſatz, der im Zuſammen-
hang mit dem nachfolgenden Artikel über Darwin's Lehre
den Gegnern derſelben ſehr willkommen erſchien und auch heute
noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie verwerthet
wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologiſche Naturbetrachtung
unter einem neuen Namen; dieſer muß hier einer kurzen Kritik
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[308/0324] Unvollkommenheit der Organiſation. XIV. Unvollkommenheit der Natur. Wie das Menſchen-Leben ſo bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall unvollkommen. Dieſe Thatſache ergibt ſich einfach aus der Er- kenntniß, daß die Natur — ebenſo die organiſche wie die an- organiſche — in einem beſtändigen Fluſſe der Entwickelung, der Veränderung und Umbildung begriffen iſt. Dieſe Entwickelung erſcheint uns im Großen und Ganzen — wenigſtens ſoweit wir die Stammesgeſchichte der organiſchen Natur auf unſerem Planeten überſehen können — als eine fortſchreitende Um- bildung, als ein hiſtoriſcher Fortſchritt vom Einfachen zum Zuſammengeſetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvoll- kommenen zum Vollkommenen. Ich habe ſchon in der Generellen Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß dieſer hiſtoriſche Fortſchritt (Progreſſuſ) — oder die allmähliche Ver- vollkommnung (Teleoſiſ) — die nothwendige Wir- kung der Selektion iſt, nicht aber die Folge eines vorbedachten Zweckes. Das ergibt ſich auch daraus, daß kein Organismus ganz vollkommen iſt; ſelbſt wenn er in einem gegebenen Augen- blicke den Umſtänden vollkommen angepaßt wäre, würde dieſer Zuſtand nicht lange dauern; denn die Exiſtenz-Bedingungen der Außenwelt ſind ſelbſt einem beſtändigen Wechſel unterworfen und bedingen damit eine ununterbrochene Anpaſſung der Organismen. Zielſtrebigkeit in den organiſchen Körpern insbeſondere. Unter dieſem Titel veröffentlichte der berühmte Embryologe Karl Ernſt Baer 1876 einen Aufſatz, der im Zuſammen- hang mit dem nachfolgenden Artikel über Darwin's Lehre den Gegnern derſelben ſehr willkommen erſchien und auch heute noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie verwerthet wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologiſche Naturbetrachtung unter einem neuen Namen; dieſer muß hier einer kurzen Kritik unterzogen werden. Vorauszuſchicken iſt dabei der Hinweis, daß Baer zwar ein Naturphiloſoph im beſten Sinne war, daß aber

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/324>, abgerufen am 25.11.2024.