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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIV. Zielstrebigkeit der Entwickelung.
seine ursprünglichen monistischen Anschauungen mit zu-
nehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen mystischen Zug
beeinflußt und zuletzt rein dualistisch wurden. In seinem
grundlegenden Hauptwerke "über Entwickelungsgeschichte der
Thiere" (1828), das er selbst als "Beobachtung und Reflexion"
bezeichnet, sind diese beiden Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig
verwerthet. Durch sorgfältigste Beobachtung aller einzelnen Vor-
gänge bei der Entwickelung des thierischen Eies gelangte Baer
zur ersten zusammenhängenden Darstellung aller der wunderbaren
Umbildungen, welche bei der Entstehung des Wirbelthier-Körpers
aus der einfachen Eikugel sich abspielen. Durch umsichtige Ver-
gleichung und scharfsinnige Reflexion suchte er aber zugleich die
Ursachen jener Transformation zu erkennen und sie auf all-
gemeine Bildungsgesetze zurückzuführen. Als allgemeinstes Resultat
derselben sprach er den Satz aus: "Die Entwickelungsgeschichte
des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität
in jeglicher Beziehung." Dabei betonte er, daß "der Eine
Grundgedanke
, der alle einzelnen Verhältnisse der thierischen
Entwickelung beherrscht, derselbe ist, der im Weltraum die ver-
theilte Masse in Sphären sammelte und diese zu Sonnensystemen
verband. Dieser Gedanke ist aber nichts als das Leben selbst,
und die Worte und Silben, in denen er sich ausspricht, sind die
verschiedenen Formen des Lebendigen."

Zu einer tieferen Erkenntniß dieses genetischen Grund-
gedankens und zur klaren Einsicht in die wahren bewirkenden
Ursachen der organischen Entwickelung vermochte Baer damals
nicht zu gelangen, weil sein Studium ausschließlich der einen
Hälfte der Entwickelungsgeschichte gewidmet war, derjenigen der
Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne
der Ontogenie. Die andere Hälfte derselben, die Ent-
wickelungsgeschichte der Stämme und Arten, unsere Stammes-
geschichte oder Phylogenie, existirte damals noch nicht, obwohl

XIV. Zielſtrebigkeit der Entwickelung.
ſeine urſprünglichen moniſtiſchen Anſchauungen mit zu-
nehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen myſtiſchen Zug
beeinflußt und zuletzt rein dualiſtiſch wurden. In ſeinem
grundlegenden Hauptwerke „über Entwickelungsgeſchichte der
Thiere“ (1828), das er ſelbſt als „Beobachtung und Reflexion“
bezeichnet, ſind dieſe beiden Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig
verwerthet. Durch ſorgfältigſte Beobachtung aller einzelnen Vor-
gänge bei der Entwickelung des thieriſchen Eies gelangte Baer
zur erſten zuſammenhängenden Darſtellung aller der wunderbaren
Umbildungen, welche bei der Entſtehung des Wirbelthier-Körpers
aus der einfachen Eikugel ſich abſpielen. Durch umſichtige Ver-
gleichung und ſcharfſinnige Reflexion ſuchte er aber zugleich die
Urſachen jener Transformation zu erkennen und ſie auf all-
gemeine Bildungsgeſetze zurückzuführen. Als allgemeinſtes Reſultat
derſelben ſprach er den Satz aus: „Die Entwickelungsgeſchichte
des Individuums iſt die Geſchichte der wachſenden Individualität
in jeglicher Beziehung.“ Dabei betonte er, daß „der Eine
Grundgedanke
, der alle einzelnen Verhältniſſe der thieriſchen
Entwickelung beherrſcht, derſelbe iſt, der im Weltraum die ver-
theilte Maſſe in Sphären ſammelte und dieſe zu Sonnenſyſtemen
verband. Dieſer Gedanke iſt aber nichts als das Leben ſelbſt,
und die Worte und Silben, in denen er ſich ausſpricht, ſind die
verſchiedenen Formen des Lebendigen.“

Zu einer tieferen Erkenntniß dieſes genetiſchen Grund-
gedankens und zur klaren Einſicht in die wahren bewirkenden
Urſachen der organiſchen Entwickelung vermochte Baer damals
nicht zu gelangen, weil ſein Studium ausſchließlich der einen
Hälfte der Entwickelungsgeſchichte gewidmet war, derjenigen der
Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne
der Ontogenie. Die andere Hälfte derſelben, die Ent-
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geſchichte oder Phylogenie, exiſtirte damals noch nicht, obwohl

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[309/0325] XIV. Zielſtrebigkeit der Entwickelung. ſeine urſprünglichen moniſtiſchen Anſchauungen mit zu- nehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen myſtiſchen Zug beeinflußt und zuletzt rein dualiſtiſch wurden. In ſeinem grundlegenden Hauptwerke „über Entwickelungsgeſchichte der Thiere“ (1828), das er ſelbſt als „Beobachtung und Reflexion“ bezeichnet, ſind dieſe beiden Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig verwerthet. Durch ſorgfältigſte Beobachtung aller einzelnen Vor- gänge bei der Entwickelung des thieriſchen Eies gelangte Baer zur erſten zuſammenhängenden Darſtellung aller der wunderbaren Umbildungen, welche bei der Entſtehung des Wirbelthier-Körpers aus der einfachen Eikugel ſich abſpielen. Durch umſichtige Ver- gleichung und ſcharfſinnige Reflexion ſuchte er aber zugleich die Urſachen jener Transformation zu erkennen und ſie auf all- gemeine Bildungsgeſetze zurückzuführen. Als allgemeinſtes Reſultat derſelben ſprach er den Satz aus: „Die Entwickelungsgeſchichte des Individuums iſt die Geſchichte der wachſenden Individualität in jeglicher Beziehung.“ Dabei betonte er, daß „der Eine Grundgedanke, der alle einzelnen Verhältniſſe der thieriſchen Entwickelung beherrſcht, derſelbe iſt, der im Weltraum die ver- theilte Maſſe in Sphären ſammelte und dieſe zu Sonnenſyſtemen verband. Dieſer Gedanke iſt aber nichts als das Leben ſelbſt, und die Worte und Silben, in denen er ſich ausſpricht, ſind die verſchiedenen Formen des Lebendigen.“ Zu einer tieferen Erkenntniß dieſes genetiſchen Grund- gedankens und zur klaren Einſicht in die wahren bewirkenden Urſachen der organiſchen Entwickelung vermochte Baer damals nicht zu gelangen, weil ſein Studium ausſchließlich der einen Hälfte der Entwickelungsgeſchichte gewidmet war, derjenigen der Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne der Ontogenie. Die andere Hälfte derſelben, die Ent- wickelungsgeſchichte der Stämme und Arten, unſere Stammes- geſchichte oder Phylogenie, exiſtirte damals noch nicht, obwohl

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/325>, abgerufen am 22.11.2024.