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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIV. Rudimentäre Organe.
ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen,
deren Flügel verkümmert sind, und die nicht fliegen können. Fast
in allen Klassen der höheren Thiere, die ihre Augen zum Sehen
gebrauchen, existiren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben
und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese noch meistens Augen;
nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An
unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir solche nutzlose
Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der Nickhaut
unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des Mannes
und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete Wurmfortsatz
unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, sondern sogar ge-
fährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen durch seine
Entzündung zu Grunde.

Die Erklärung dieser und vieler anderen zwecklosen Ein-
richtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag
weder der alte mystische Vitalismus noch der neue, ebenso
irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden
wir sie sehr einfach durch die Descendenz-Theorie. Sie
zeigt, daß diese rudimentären Organe verkümmert sind, und
zwar durch Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven,
die Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch gestärkt
werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch Unthätigkeit und
unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber
obgleich so durch Uebung und Anpassung die höhere Entwickelung
der Organe gefördert wird, so verschwinden sie doch keineswegs
sofort spurlos durch Nichtübung; vielmehr werden sie durch die
Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten
und verschwinden erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde
"Kampf ums Dasein zwischen den Organen" bedingt ebenso ihren
historischen Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und
Ausbildung verursachte. Ein immanenter "Zweck" spielt dabei
gar keine Rolle.

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XIV. Rudimentäre Organe.
ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen,
deren Flügel verkümmert ſind, und die nicht fliegen können. Faſt
in allen Klaſſen der höheren Thiere, die ihre Augen zum Sehen
gebrauchen, exiſtiren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben
und nicht ſehen; trotzdem beſitzen auch dieſe noch meiſtens Augen;
nur ſind ſie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An
unſerem eigenen menſchlichen Körper beſitzen wir ſolche nutzloſe
Rudimente in den Muskeln unſeres Ohres, in der Nickhaut
unſeres Auges, in der Bruſtwarze und Milchdrüſe des Mannes
und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete Wurmfortſatz
unſeres Blinddarmes iſt nicht nur unnütz, ſondern ſogar ge-
fährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menſchen durch ſeine
Entzündung zu Grunde.

Die Erklärung dieſer und vieler anderen zweckloſen Ein-
richtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag
weder der alte myſtiſche Vitalismus noch der neue, ebenſo
irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden
wir ſie ſehr einfach durch die Deſcendenz-Theorie. Sie
zeigt, daß dieſe rudimentären Organe verkümmert ſind, und
zwar durch Nichtgebrauch. Ebenſo, wie die Muskeln, die Nerven,
die Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch geſtärkt
werden, ebenſo erleiden ſie umgekehrt durch Unthätigkeit und
unterlaſſenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber
obgleich ſo durch Uebung und Anpaſſung die höhere Entwickelung
der Organe gefördert wird, ſo verſchwinden ſie doch keineswegs
ſofort ſpurlos durch Nichtübung; vielmehr werden ſie durch die
Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten
und verſchwinden erſt allmählich nach längerer Zeit. Der blinde
„Kampf ums Daſein zwiſchen den Organen“ bedingt ebenſo ihren
hiſtoriſchen Untergang, wie er urſprünglich ihre Entſtehung und
Ausbildung verurſachte. Ein immanenter „Zweck“ ſpielt dabei
gar keine Rolle.

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[307/0323] XIV. Rudimentäre Organe. ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen, deren Flügel verkümmert ſind, und die nicht fliegen können. Faſt in allen Klaſſen der höheren Thiere, die ihre Augen zum Sehen gebrauchen, exiſtiren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben und nicht ſehen; trotzdem beſitzen auch dieſe noch meiſtens Augen; nur ſind ſie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An unſerem eigenen menſchlichen Körper beſitzen wir ſolche nutzloſe Rudimente in den Muskeln unſeres Ohres, in der Nickhaut unſeres Auges, in der Bruſtwarze und Milchdrüſe des Mannes und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete Wurmfortſatz unſeres Blinddarmes iſt nicht nur unnütz, ſondern ſogar ge- fährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menſchen durch ſeine Entzündung zu Grunde. Die Erklärung dieſer und vieler anderen zweckloſen Ein- richtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag weder der alte myſtiſche Vitalismus noch der neue, ebenſo irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden wir ſie ſehr einfach durch die Deſcendenz-Theorie. Sie zeigt, daß dieſe rudimentären Organe verkümmert ſind, und zwar durch Nichtgebrauch. Ebenſo, wie die Muskeln, die Nerven, die Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch geſtärkt werden, ebenſo erleiden ſie umgekehrt durch Unthätigkeit und unterlaſſenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber obgleich ſo durch Uebung und Anpaſſung die höhere Entwickelung der Organe gefördert wird, ſo verſchwinden ſie doch keineswegs ſofort ſpurlos durch Nichtübung; vielmehr werden ſie durch die Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten und verſchwinden erſt allmählich nach längerer Zeit. Der blinde „Kampf ums Daſein zwiſchen den Organen“ bedingt ebenſo ihren hiſtoriſchen Untergang, wie er urſprünglich ihre Entſtehung und Ausbildung verurſachte. Ein immanenter „Zweck“ ſpielt dabei gar keine Rolle. 20 *

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/323>, abgerufen am 22.11.2024.