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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Wirkliche Beweise gegen die Unsterblichkeit. XI.
der Seele ist es bei der hohen Bedeutung dieser Frage wohl
zweckmäßig, die wohlbegründeten, wissenschaftlichen Beweise gegen
dieselbe hier kurz zusammenzufassen. Der physiologische
Beweis lehrt uns, daß die menschliche Seele ebenso wie die der
höheren Thiere kein selbständiges, immaterielles Wesen ist, sondern
der Kollektiv-Begriff für eine Summe von Gehirn-Funktionen;
diese sind ebenso wie alle anderen Lebensthätigkeiten durch physi-
kalische und chemische Processe bedingt, also auch dem Substanz-
Gesetze unterworfen. Der histologische Beweis gründet sich
auf den höchst verwickelten mikroskopischen Bau des Gehirns und
lehrt uns in den Ganglien-Zellen desselben die wahren "Ele-
mentar-Organe der Seele" kennen. Der experimentelle
Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelenthätigkeiten an
einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale
Beschaffenheit unmöglich sind; werden diese Bezirke zerstört, so
erlischt damit auch deren Funktion; insbesondere gilt dies von den
"Denkorganen", den einzigen centralen Werkzeugen des "Geistes-
lebens". Der pathologische Beweis ergänzt den physio-
logischen; wenn bestimmte Gehirn-Bezirke (Sprach-Centrum, Seh-
sphäre, Hörsphäre) durch Krankheit zerstört werden, so verschwindet
auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur selbst
führt hier das entscheidende physiologische Experiment aus. Der
ontogenetische Beweis führt uns unmittelbar die Thatsachen
der individuellen Entwickelung der Seele vor Augen; wir sehen,
wie die Kindesseele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach
entwickelt; der Jüngling bildet sie zur vollen Blüthe, der Mann
zur reifen Frucht aus; im Greisen-Alter findet allmähliche Rück-
bildung der Seele statt, entsprechend der senilen Degeneration
des Gehirns. Der phylogenetische Beweis stützt sich auf
die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Physiologie
des Gehirns; in ihrer gegenseitigen Ergänzung begründen diese
Wissenschaften vereinigt die Gewißheit, daß das Gehirn des

Wirkliche Beweiſe gegen die Unſterblichkeit. XI.
der Seele iſt es bei der hohen Bedeutung dieſer Frage wohl
zweckmäßig, die wohlbegründeten, wiſſenſchaftlichen Beweiſe gegen
dieſelbe hier kurz zuſammenzufaſſen. Der phyſiologiſche
Beweis lehrt uns, daß die menſchliche Seele ebenſo wie die der
höheren Thiere kein ſelbſtändiges, immaterielles Weſen iſt, ſondern
der Kollektiv-Begriff für eine Summe von Gehirn-Funktionen;
dieſe ſind ebenſo wie alle anderen Lebensthätigkeiten durch phyſi-
kaliſche und chemiſche Proceſſe bedingt, alſo auch dem Subſtanz-
Geſetze unterworfen. Der hiſtologiſche Beweis gründet ſich
auf den höchſt verwickelten mikroſkopiſchen Bau des Gehirns und
lehrt uns in den Ganglien-Zellen desſelben die wahren „Ele-
mentar-Organe der Seele“ kennen. Der experimentelle
Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelenthätigkeiten an
einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale
Beſchaffenheit unmöglich ſind; werden dieſe Bezirke zerſtört, ſo
erliſcht damit auch deren Funktion; insbeſondere gilt dies von den
„Denkorganen“, den einzigen centralen Werkzeugen des „Geiſtes-
lebens“. Der pathologiſche Beweis ergänzt den phyſio-
logiſchen; wenn beſtimmte Gehirn-Bezirke (Sprach-Centrum, Seh-
ſphäre, Hörſphäre) durch Krankheit zerſtört werden, ſo verſchwindet
auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur ſelbſt
führt hier das entſcheidende phyſiologiſche Experiment aus. Der
ontogenetiſche Beweis führt uns unmittelbar die Thatſachen
der individuellen Entwickelung der Seele vor Augen; wir ſehen,
wie die Kindesſeele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach
entwickelt; der Jüngling bildet ſie zur vollen Blüthe, der Mann
zur reifen Frucht aus; im Greiſen-Alter findet allmähliche Rück-
bildung der Seele ſtatt, entſprechend der ſenilen Degeneration
des Gehirns. Der phylogenetiſche Beweis ſtützt ſich auf
die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Phyſiologie
des Gehirns; in ihrer gegenſeitigen Ergänzung begründen dieſe
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[236/0252] Wirkliche Beweiſe gegen die Unſterblichkeit. XI. der Seele iſt es bei der hohen Bedeutung dieſer Frage wohl zweckmäßig, die wohlbegründeten, wiſſenſchaftlichen Beweiſe gegen dieſelbe hier kurz zuſammenzufaſſen. Der phyſiologiſche Beweis lehrt uns, daß die menſchliche Seele ebenſo wie die der höheren Thiere kein ſelbſtändiges, immaterielles Weſen iſt, ſondern der Kollektiv-Begriff für eine Summe von Gehirn-Funktionen; dieſe ſind ebenſo wie alle anderen Lebensthätigkeiten durch phyſi- kaliſche und chemiſche Proceſſe bedingt, alſo auch dem Subſtanz- Geſetze unterworfen. Der hiſtologiſche Beweis gründet ſich auf den höchſt verwickelten mikroſkopiſchen Bau des Gehirns und lehrt uns in den Ganglien-Zellen desſelben die wahren „Ele- mentar-Organe der Seele“ kennen. Der experimentelle Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelenthätigkeiten an einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale Beſchaffenheit unmöglich ſind; werden dieſe Bezirke zerſtört, ſo erliſcht damit auch deren Funktion; insbeſondere gilt dies von den „Denkorganen“, den einzigen centralen Werkzeugen des „Geiſtes- lebens“. Der pathologiſche Beweis ergänzt den phyſio- logiſchen; wenn beſtimmte Gehirn-Bezirke (Sprach-Centrum, Seh- ſphäre, Hörſphäre) durch Krankheit zerſtört werden, ſo verſchwindet auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur ſelbſt führt hier das entſcheidende phyſiologiſche Experiment aus. Der ontogenetiſche Beweis führt uns unmittelbar die Thatſachen der individuellen Entwickelung der Seele vor Augen; wir ſehen, wie die Kindesſeele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach entwickelt; der Jüngling bildet ſie zur vollen Blüthe, der Mann zur reifen Frucht aus; im Greiſen-Alter findet allmähliche Rück- bildung der Seele ſtatt, entſprechend der ſenilen Degeneration des Gehirns. Der phylogenetiſche Beweis ſtützt ſich auf die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Phyſiologie des Gehirns; in ihrer gegenſeitigen Ergänzung begründen dieſe Wiſſenſchaften vereinigt die Gewißheit, daß das Gehirn des

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/252>, abgerufen am 03.05.2024.