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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XI. Angebliche Beweise für die Unsterblichkeit.
mystischen Dichtung, des transscendenten "Glaubens", nicht der
vernünftig schließenden Wissenschaft.

Wollten wir alle die einzelnen Gründe analysiren, welche
für den Unsterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden sind, so
würde sich ergeben, daß nicht ein einziger derselben wirklich
wissenschaftlich ist; kein einziger verträgt sich mit den klaren
Erkenntnissen, welche wir durch die physiologische Psychologie und
die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen
haben. Der theologische Beweis, daß ein persönlicher Schöpfer
dem Menschen eine unsterbliche Seele (meistens als Theil seiner
eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, ist reiner
Mythus. Der kosmologische Beweis, daß die "sittliche Welt-
ordnung" die ewige Fortdauer der menschlichen Seele erfordere,
ist unbegründetes Dogma. Der teleologische Beweis, daß
die "höhere Bestimmung" des Menschen eine volle Ausbildung
seiner mangelhaften irdischen Seele im Jenseits erfordere, beruht
auf einem falschen Anthropismus. Der moralische Beweis,
daß die Mängel und die unbefriedigten Wünsche des irdischen
Daseins durch eine "ausgleichende Gerechtigkeit" im Jenseits
befriedigt werden müssen, ist ein frommer Wunsch, weiter nichts.
Der ethnologische Beweis, daß der Glaube an die Unsterb-
lichkeit ebenso wie an Gott eine angeborene, allen Menschen
gemeinsame Wahrheit sei, ist thatsächlicher Irrthum. Der onto-
logische
Beweis, daß die Seele als ein "einfaches, immaterielles
und untheilbares Wesen" unmöglich mit dem Tode verschwinden
könne, beruht auf einer ganz falschen Auffassung der psychischen
Erscheinungen; sie ist ein spiritualistischer Irrthum. Alle diese
und andere ähnliche "Beweise für den Athanismus" sind hin-
fällig geworden; sie sind durch die wissenschaftliche Kritik der
letzten Decennien definitiv widerlegt.

Beweise gegen den Athanismus. Gegenüber den an-
geführten, sämmtlich unhaltbaren Gründen für die Unsterblichkeit

XI. Angebliche Beweiſe für die Unſterblichkeit.
myſtiſchen Dichtung, des transſcendenten „Glaubens“, nicht der
vernünftig ſchließenden Wiſſenſchaft.

Wollten wir alle die einzelnen Gründe analyſiren, welche
für den Unſterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden ſind, ſo
würde ſich ergeben, daß nicht ein einziger derſelben wirklich
wiſſenſchaftlich iſt; kein einziger verträgt ſich mit den klaren
Erkenntniſſen, welche wir durch die phyſiologiſche Pſychologie und
die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen
haben. Der theologiſche Beweis, daß ein perſönlicher Schöpfer
dem Menſchen eine unſterbliche Seele (meiſtens als Theil ſeiner
eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, iſt reiner
Mythus. Der kosmologiſche Beweis, daß die „ſittliche Welt-
ordnung“ die ewige Fortdauer der menſchlichen Seele erfordere,
iſt unbegründetes Dogma. Der teleologiſche Beweis, daß
die „höhere Beſtimmung“ des Menſchen eine volle Ausbildung
ſeiner mangelhaften irdiſchen Seele im Jenſeits erfordere, beruht
auf einem falſchen Anthropismus. Der moraliſche Beweis,
daß die Mängel und die unbefriedigten Wünſche des irdiſchen
Daſeins durch eine „ausgleichende Gerechtigkeit“ im Jenſeits
befriedigt werden müſſen, iſt ein frommer Wunſch, weiter nichts.
Der ethnologiſche Beweis, daß der Glaube an die Unſterb-
lichkeit ebenſo wie an Gott eine angeborene, allen Menſchen
gemeinſame Wahrheit ſei, iſt thatſächlicher Irrthum. Der onto-
logiſche
Beweis, daß die Seele als ein „einfaches, immaterielles
und untheilbares Weſen“ unmöglich mit dem Tode verſchwinden
könne, beruht auf einer ganz falſchen Auffaſſung der pſychiſchen
Erſcheinungen; ſie iſt ein ſpiritualiſtiſcher Irrthum. Alle dieſe
und andere ähnliche „Beweiſe für den Athanismus“ ſind hin-
fällig geworden; ſie ſind durch die wiſſenſchaftliche Kritik der
letzten Decennien definitiv widerlegt.

Beweiſe gegen den Athanismus. Gegenüber den an-
geführten, ſämmtlich unhaltbaren Gründen für die Unſterblichkeit

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[235/0251] XI. Angebliche Beweiſe für die Unſterblichkeit. myſtiſchen Dichtung, des transſcendenten „Glaubens“, nicht der vernünftig ſchließenden Wiſſenſchaft. Wollten wir alle die einzelnen Gründe analyſiren, welche für den Unſterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden ſind, ſo würde ſich ergeben, daß nicht ein einziger derſelben wirklich wiſſenſchaftlich iſt; kein einziger verträgt ſich mit den klaren Erkenntniſſen, welche wir durch die phyſiologiſche Pſychologie und die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen haben. Der theologiſche Beweis, daß ein perſönlicher Schöpfer dem Menſchen eine unſterbliche Seele (meiſtens als Theil ſeiner eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, iſt reiner Mythus. Der kosmologiſche Beweis, daß die „ſittliche Welt- ordnung“ die ewige Fortdauer der menſchlichen Seele erfordere, iſt unbegründetes Dogma. Der teleologiſche Beweis, daß die „höhere Beſtimmung“ des Menſchen eine volle Ausbildung ſeiner mangelhaften irdiſchen Seele im Jenſeits erfordere, beruht auf einem falſchen Anthropismus. Der moraliſche Beweis, daß die Mängel und die unbefriedigten Wünſche des irdiſchen Daſeins durch eine „ausgleichende Gerechtigkeit“ im Jenſeits befriedigt werden müſſen, iſt ein frommer Wunſch, weiter nichts. Der ethnologiſche Beweis, daß der Glaube an die Unſterb- lichkeit ebenſo wie an Gott eine angeborene, allen Menſchen gemeinſame Wahrheit ſei, iſt thatſächlicher Irrthum. Der onto- logiſche Beweis, daß die Seele als ein „einfaches, immaterielles und untheilbares Weſen“ unmöglich mit dem Tode verſchwinden könne, beruht auf einer ganz falſchen Auffaſſung der pſychiſchen Erſcheinungen; ſie iſt ein ſpiritualiſtiſcher Irrthum. Alle dieſe und andere ähnliche „Beweiſe für den Athanismus“ ſind hin- fällig geworden; ſie ſind durch die wiſſenſchaftliche Kritik der letzten Decennien definitiv widerlegt. Beweiſe gegen den Athanismus. Gegenüber den an- geführten, ſämmtlich unhaltbaren Gründen für die Unſterblichkeit

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/251>, abgerufen am 30.04.2024.