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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XI. Athanistische Illusionen.
Menschen (und also auch dessen Funktion, die Seele) sich stufen-
weise und allmählich aus demjenigen der Säugethiere und weiterhin
der niederen Wirbelthiere entwickelt hat.

Athanistische Illusionen. Die vorhergehenden Unter-
suchungen, die durch viele andere Ergebnisse der modernen
Wissenschaft ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma
von der "Unsterblichkeit der Seele" als völlig unhaltbar nach-
gewiesen; dasselbe kann im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr
Gegenstand ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern nur noch
des transscendenten Glaubens sein. Die "Kritik der reinen
Vernunft" weist aber nach, daß dieser hochgeschätzte Glaube, bei
Licht betrachtet, der reine Aberglaube ist, ebenso wie der oft
damit verknüpfte Glaube an den "persönlichen Gott". Nun halten
aber noch heute Millionen von "Gläubigen" -- nicht nur aus
den niederen, ungebildeten Volksmassen, sondern aus den höheren
und höchsten Bildungskreisen -- diesen Aberglauben für ihr
theuerstes Besitzthum, für ihren "kostbarsten Schatz". Es wird
daher nöthig sein, in den damit verknüpften Vorstellungs-Kreis
noch etwas tiefer einzugehen und -- seine Wahrheit voraus-
gesetzt -- seinen wirklichen Werth einer kritischen Prüfung zu
unterziehen. Da ergiebt sich denn für den objektiven Kritiker die
Einsicht, daß jener Werth zum größten Theile auf Einbildung
beruht, auf Mangel an klarem Urtheil und an folgerichtigem
Denken. Der definitive Verzicht auf diese "athanistischen
Illusionen
" würde nach meiner festen und ehrlichen Ueber-
zeugung für die Menschheit nicht nur keinen schmerzlichen Ver-
lust
, sondern einen unschätzbaren positiven Gewinn bedeuten.

Das menschliche "Gemüths-Bedürfniß" hält den
Unsterblichkeits-Glauben besonders aus zwei Gründen fest, erstens
in der Hoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben im Jenseits,
und zweitens in der Hoffnung auf Wiedersehen der theuren Lieben
und Freunde, welche uns der Tod hier entrissen hat. Was

XI. Athaniſtiſche Illuſionen.
Menſchen (und alſo auch deſſen Funktion, die Seele) ſich ſtufen-
weiſe und allmählich aus demjenigen der Säugethiere und weiterhin
der niederen Wirbelthiere entwickelt hat.

Athaniſtiſche Illuſionen. Die vorhergehenden Unter-
ſuchungen, die durch viele andere Ergebniſſe der modernen
Wiſſenſchaft ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma
von der „Unſterblichkeit der Seele“ als völlig unhaltbar nach-
gewieſen; dasſelbe kann im zwanzigſten Jahrhundert nicht mehr
Gegenſtand ernſter wiſſenſchaftlicher Forſchung, ſondern nur noch
des transſcendenten Glaubens ſein. Die „Kritik der reinen
Vernunft“ weiſt aber nach, daß dieſer hochgeſchätzte Glaube, bei
Licht betrachtet, der reine Aberglaube iſt, ebenſo wie der oft
damit verknüpfte Glaube an den „perſönlichen Gott“. Nun halten
aber noch heute Millionen von „Gläubigen“ — nicht nur aus
den niederen, ungebildeten Volksmaſſen, ſondern aus den höheren
und höchſten Bildungskreiſen — dieſen Aberglauben für ihr
theuerſtes Beſitzthum, für ihren „koſtbarſten Schatz“. Es wird
daher nöthig ſein, in den damit verknüpften Vorſtellungs-Kreis
noch etwas tiefer einzugehen und — ſeine Wahrheit voraus-
geſetzt — ſeinen wirklichen Werth einer kritiſchen Prüfung zu
unterziehen. Da ergiebt ſich denn für den objektiven Kritiker die
Einſicht, daß jener Werth zum größten Theile auf Einbildung
beruht, auf Mangel an klarem Urtheil und an folgerichtigem
Denken. Der definitive Verzicht auf dieſe „athaniſtiſchen
Illuſionen
“ würde nach meiner feſten und ehrlichen Ueber-
zeugung für die Menſchheit nicht nur keinen ſchmerzlichen Ver-
luſt
, ſondern einen unſchätzbaren poſitiven Gewinn bedeuten.

Das menſchliche „Gemüths-Bedürfniß“ hält den
Unſterblichkeits-Glauben beſonders aus zwei Gründen feſt, erſtens
in der Hoffnung auf ein beſſeres zukünftiges Leben im Jenſeits,
und zweitens in der Hoffnung auf Wiederſehen der theuren Lieben
und Freunde, welche uns der Tod hier entriſſen hat. Was

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[237/0253] XI. Athaniſtiſche Illuſionen. Menſchen (und alſo auch deſſen Funktion, die Seele) ſich ſtufen- weiſe und allmählich aus demjenigen der Säugethiere und weiterhin der niederen Wirbelthiere entwickelt hat. Athaniſtiſche Illuſionen. Die vorhergehenden Unter- ſuchungen, die durch viele andere Ergebniſſe der modernen Wiſſenſchaft ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma von der „Unſterblichkeit der Seele“ als völlig unhaltbar nach- gewieſen; dasſelbe kann im zwanzigſten Jahrhundert nicht mehr Gegenſtand ernſter wiſſenſchaftlicher Forſchung, ſondern nur noch des transſcendenten Glaubens ſein. Die „Kritik der reinen Vernunft“ weiſt aber nach, daß dieſer hochgeſchätzte Glaube, bei Licht betrachtet, der reine Aberglaube iſt, ebenſo wie der oft damit verknüpfte Glaube an den „perſönlichen Gott“. Nun halten aber noch heute Millionen von „Gläubigen“ — nicht nur aus den niederen, ungebildeten Volksmaſſen, ſondern aus den höheren und höchſten Bildungskreiſen — dieſen Aberglauben für ihr theuerſtes Beſitzthum, für ihren „koſtbarſten Schatz“. Es wird daher nöthig ſein, in den damit verknüpften Vorſtellungs-Kreis noch etwas tiefer einzugehen und — ſeine Wahrheit voraus- geſetzt — ſeinen wirklichen Werth einer kritiſchen Prüfung zu unterziehen. Da ergiebt ſich denn für den objektiven Kritiker die Einſicht, daß jener Werth zum größten Theile auf Einbildung beruht, auf Mangel an klarem Urtheil und an folgerichtigem Denken. Der definitive Verzicht auf dieſe „athaniſtiſchen Illuſionen“ würde nach meiner feſten und ehrlichen Ueber- zeugung für die Menſchheit nicht nur keinen ſchmerzlichen Ver- luſt, ſondern einen unſchätzbaren poſitiven Gewinn bedeuten. Das menſchliche „Gemüths-Bedürfniß“ hält den Unſterblichkeits-Glauben beſonders aus zwei Gründen feſt, erſtens in der Hoffnung auf ein beſſeres zukünftiges Leben im Jenſeits, und zweitens in der Hoffnung auf Wiederſehen der theuren Lieben und Freunde, welche uns der Tod hier entriſſen hat. Was

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/253>, abgerufen am 27.11.2024.