Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
Bewußtsein und Seelenleben. X.

Begriff des Bewußtseins. Schon über den elementaren
Begriff dieser Seelenthätigkeit, über seinen Inhalt und Umfang
gehen die Ansichten der angesehensten Philosophen und Natur-
forscher weit aus einander. Vielleicht am besten bezeichnet man
den Inhalt des Bewußtseins als innere Anschauung und
vergleicht diese einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke
desselben unterscheiden wir das objektive und subjektive Be-
wußtsein, das Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein. Bei
Weitem der größte Theil aller bewußten Seelenthätigkeit betrifft,
wie schon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewußtsein
der Außenwelt, der "anderen Dinge"; dieses Weltbewußt-
sein
umfaßt alle möglichen Erscheinungen der Außenwelt, welche
überhaupt unserer Erkenntniß zugänglich sind. Viel beschränkter
ist unser Selbstbewußtsein, die innere Spiegelung unserer
eigenen gesammten Seelenthätigkeit, aller Vorstellungen, Em-
pfindungen und Strebungen oder Willensthätigkeiten.

Bewußtsein und Seelenleben. Viele und angesehene
Denker, namentlich unter den Physiologen (z. B. Wundt und
Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtseins und der psychischen
Funktionen für identisch: "alle Seelenthätigkeit ist
bewußte
"; das Gebiet des psychischen Lebens reicht nur so
weit als dasjenige des Bewußtseins. Nach unserer Ansicht er-
weitert diese Definition die Bedeutung des letzteren in un-
gebührlicher Weise und giebt Veranlassung zu zahlreichen Irr-
thümern und Mißverständnissen. Wir theilen vielmehr die An-
sicht anderer Philosophen (z. B. Romanes, Fritz Schultze,
Paulsen
), daß auch die unbewußten Vorstellungen, Empfindungen
und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der That ist
sogar das Gebiet dieser unbewußten psychischen Aktionen (der
Reflexthätigkeit u. s. w.) viel ausgedehnter als dasjenige der
bewußten. Beide Gebiete stehen übrigens im engsten Zusammen-
hang und sind durch keine scharfe Grenze getrennt; jeder Zeit

Bewußtſein und Seelenleben. X.

Begriff des Bewußtſeins. Schon über den elementaren
Begriff dieſer Seelenthätigkeit, über ſeinen Inhalt und Umfang
gehen die Anſichten der angeſehenſten Philoſophen und Natur-
forſcher weit aus einander. Vielleicht am beſten bezeichnet man
den Inhalt des Bewußtſeins als innere Anſchauung und
vergleicht dieſe einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke
desſelben unterſcheiden wir das objektive und ſubjektive Be-
wußtſein, das Weltbewußtſein und Selbſtbewußtſein. Bei
Weitem der größte Theil aller bewußten Seelenthätigkeit betrifft,
wie ſchon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewußtſein
der Außenwelt, der „anderen Dinge“; dieſes Weltbewußt-
ſein
umfaßt alle möglichen Erſcheinungen der Außenwelt, welche
überhaupt unſerer Erkenntniß zugänglich ſind. Viel beſchränkter
iſt unſer Selbſtbewußtſein, die innere Spiegelung unſerer
eigenen geſammten Seelenthätigkeit, aller Vorſtellungen, Em-
pfindungen und Strebungen oder Willensthätigkeiten.

Bewußtſein und Seelenleben. Viele und angeſehene
Denker, namentlich unter den Phyſiologen (z. B. Wundt und
Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtſeins und der pſychiſchen
Funktionen für identiſch: „alle Seelenthätigkeit iſt
bewußte
“; das Gebiet des pſychiſchen Lebens reicht nur ſo
weit als dasjenige des Bewußtſeins. Nach unſerer Anſicht er-
weitert dieſe Definition die Bedeutung des letzteren in un-
gebührlicher Weiſe und giebt Veranlaſſung zu zahlreichen Irr-
thümern und Mißverſtändniſſen. Wir theilen vielmehr die An-
ſicht anderer Philoſophen (z. B. Romanes, Fritz Schultze,
Paulſen
), daß auch die unbewußten Vorſtellungen, Empfindungen
und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der That iſt
ſogar das Gebiet dieſer unbewußten pſychiſchen Aktionen (der
Reflexthätigkeit u. ſ. w.) viel ausgedehnter als dasjenige der
bewußten. Beide Gebiete ſtehen übrigens im engſten Zuſammen-
hang und ſind durch keine ſcharfe Grenze getrennt; jeder Zeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0214" n="198"/>
          <fw place="top" type="header">Bewußt&#x017F;ein und Seelenleben. <hi rendition="#aq">X.</hi></fw><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Begriff des Bewußt&#x017F;eins.</hi> Schon über den elementaren<lb/>
Begriff die&#x017F;er Seelenthätigkeit, über &#x017F;einen Inhalt und Umfang<lb/>
gehen die An&#x017F;ichten der ange&#x017F;ehen&#x017F;ten Philo&#x017F;ophen und Natur-<lb/>
for&#x017F;cher weit aus einander. Vielleicht am be&#x017F;ten bezeichnet man<lb/>
den Inhalt des Bewußt&#x017F;eins als <hi rendition="#g">innere An&#x017F;chauung</hi> und<lb/>
vergleicht die&#x017F;e einer <hi rendition="#g">Spiegelung</hi>. Als zwei Hauptbezirke<lb/>
des&#x017F;elben unter&#x017F;cheiden wir das objektive und &#x017F;ubjektive Be-<lb/>
wußt&#x017F;ein, das Weltbewußt&#x017F;ein und Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein. Bei<lb/>
Weitem der größte Theil aller bewußten Seelenthätigkeit betrifft,<lb/>
wie &#x017F;chon <hi rendition="#g">Schopenhauer</hi> richtig erkannte, das Bewußt&#x017F;ein<lb/>
der Außenwelt, der &#x201E;anderen Dinge&#x201C;; die&#x017F;es <hi rendition="#g">Weltbewußt-<lb/>
&#x017F;ein</hi> umfaßt alle möglichen Er&#x017F;cheinungen der Außenwelt, welche<lb/>
überhaupt un&#x017F;erer Erkenntniß zugänglich &#x017F;ind. Viel be&#x017F;chränkter<lb/>
i&#x017F;t un&#x017F;er <hi rendition="#g">Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein</hi>, die innere Spiegelung un&#x017F;erer<lb/>
eigenen ge&#x017F;ammten Seelenthätigkeit, aller Vor&#x017F;tellungen, Em-<lb/>
pfindungen und Strebungen oder Willensthätigkeiten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Bewußt&#x017F;ein und Seelenleben.</hi> Viele und ange&#x017F;ehene<lb/>
Denker, namentlich unter den Phy&#x017F;iologen (z. B. <hi rendition="#g">Wundt</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Ziehen</hi>), halten die Begriffe des Bewußt&#x017F;eins und der p&#x017F;ychi&#x017F;chen<lb/>
Funktionen für identi&#x017F;ch: &#x201E;<hi rendition="#g">alle Seelenthätigkeit i&#x017F;t<lb/>
bewußte</hi>&#x201C;; das Gebiet des p&#x017F;ychi&#x017F;chen Lebens reicht nur &#x017F;o<lb/>
weit als dasjenige des Bewußt&#x017F;eins. Nach un&#x017F;erer An&#x017F;icht er-<lb/>
weitert die&#x017F;e Definition die Bedeutung des letzteren in un-<lb/>
gebührlicher Wei&#x017F;e und giebt Veranla&#x017F;&#x017F;ung zu zahlreichen Irr-<lb/>
thümern und Mißver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;en. Wir theilen vielmehr die An-<lb/>
&#x017F;icht anderer Philo&#x017F;ophen (z. B. <hi rendition="#g">Romanes, Fritz Schultze,<lb/>
Paul&#x017F;en</hi>), daß auch die unbewußten Vor&#x017F;tellungen, Empfindungen<lb/>
und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der That i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ogar das Gebiet die&#x017F;er unbewußten p&#x017F;ychi&#x017F;chen Aktionen (der<lb/>
Reflexthätigkeit u. &#x017F;. w.) viel ausgedehnter als dasjenige der<lb/>
bewußten. Beide Gebiete &#x017F;tehen übrigens im eng&#x017F;ten Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang und &#x017F;ind durch keine &#x017F;charfe Grenze getrennt; jeder Zeit<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[198/0214] Bewußtſein und Seelenleben. X. Begriff des Bewußtſeins. Schon über den elementaren Begriff dieſer Seelenthätigkeit, über ſeinen Inhalt und Umfang gehen die Anſichten der angeſehenſten Philoſophen und Natur- forſcher weit aus einander. Vielleicht am beſten bezeichnet man den Inhalt des Bewußtſeins als innere Anſchauung und vergleicht dieſe einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke desſelben unterſcheiden wir das objektive und ſubjektive Be- wußtſein, das Weltbewußtſein und Selbſtbewußtſein. Bei Weitem der größte Theil aller bewußten Seelenthätigkeit betrifft, wie ſchon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewußtſein der Außenwelt, der „anderen Dinge“; dieſes Weltbewußt- ſein umfaßt alle möglichen Erſcheinungen der Außenwelt, welche überhaupt unſerer Erkenntniß zugänglich ſind. Viel beſchränkter iſt unſer Selbſtbewußtſein, die innere Spiegelung unſerer eigenen geſammten Seelenthätigkeit, aller Vorſtellungen, Em- pfindungen und Strebungen oder Willensthätigkeiten. Bewußtſein und Seelenleben. Viele und angeſehene Denker, namentlich unter den Phyſiologen (z. B. Wundt und Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtſeins und der pſychiſchen Funktionen für identiſch: „alle Seelenthätigkeit iſt bewußte“; das Gebiet des pſychiſchen Lebens reicht nur ſo weit als dasjenige des Bewußtſeins. Nach unſerer Anſicht er- weitert dieſe Definition die Bedeutung des letzteren in un- gebührlicher Weiſe und giebt Veranlaſſung zu zahlreichen Irr- thümern und Mißverſtändniſſen. Wir theilen vielmehr die An- ſicht anderer Philoſophen (z. B. Romanes, Fritz Schultze, Paulſen), daß auch die unbewußten Vorſtellungen, Empfindungen und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der That iſt ſogar das Gebiet dieſer unbewußten pſychiſchen Aktionen (der Reflexthätigkeit u. ſ. w.) viel ausgedehnter als dasjenige der bewußten. Beide Gebiete ſtehen übrigens im engſten Zuſammen- hang und ſind durch keine ſcharfe Grenze getrennt; jeder Zeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/214
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/214>, abgerufen am 23.11.2024.