Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Stammesgeschichte des Markrohrs. IX.
naturgemäßen Psychologie ist, erscheint es zweckmäßig,
jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder
Haupt-Abschnitten einzutheilen; in jedem derselben hat sich gleich-
mäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch seine Funktion,
die "Psyche" vervollkommnet. Ich unterscheide acht solche Pe-
rioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs
,
charakterisirt durch acht verschiedene Hauptgruppen der Wirbel-
thiere; nämlich I. die Schädellosen (Acrania), II. die Rund-
mäuler (Cyclostoma), III. die Fische (Pisces), IV. die Lurche
(Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere (Monotrema und
Marsupialia), VI. die älteren placentalen Säugethiere, besonders
die Halbaffen (Prosimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die
echten Affen (Simiae), VIII. die Menschenaffen und der Mensch
(Anthropomorpha).

I. Erste Stufe: Schädellose (Acrania), heute nur noch
vertreten durch den Lanzelot (Amphioxus); das Seelenorgan
bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs stehen und
stellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn.
II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cyclostoma), die älteste
Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute noch vertreten durch
die Pricken (Petromyzontes) und die Inger (Myxinoides); das
Vorderende des Markrohrs schwillt zu einer Blase an, welche
sich in fünf hinter einander liegende Hirnblasen sondert (Groß-
hirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); diese fünf
Hirnblasen bilden die gemeinsame Grundlage, aus welcher sich
das Gehirn sämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken
bis zum Menschen hinauf. III. Dritte Stufe: Urfische
(Selachii), ähnlich den heutigen Haifischen; bei diesen ältesten
Fischen, von denen alle Kiefermäuler (Gnathostoma) abstammen,
beginnt die stärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblasen.
IV. Vierte Stufe: Lurche (Amphibia). Mit dieser ältesten
Klasse der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerst in der Stein-

Stammesgeſchichte des Markrohrs. IX.
naturgemäßen Pſychologie iſt, erſcheint es zweckmäßig,
jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder
Haupt-Abſchnitten einzutheilen; in jedem derſelben hat ſich gleich-
mäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch ſeine Funktion,
die „Pſyche“ vervollkommnet. Ich unterſcheide acht ſolche Pe-
rioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs
,
charakteriſirt durch acht verſchiedene Hauptgruppen der Wirbel-
thiere; nämlich I. die Schädelloſen (Acrania), II. die Rund-
mäuler (Cycloſtoma), III. die Fiſche (Piſceſ), IV. die Lurche
(Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere (Monotrema und
Marſupialia), VI. die älteren placentalen Säugethiere, beſonders
die Halbaffen (Proſimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die
echten Affen (Simiae), VIII. die Menſchenaffen und der Menſch
(Anthropomorpha).

I. Erſte Stufe: Schädelloſe (Acrania), heute nur noch
vertreten durch den Lanzelot (Amphioxuſ); das Seelenorgan
bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs ſtehen und
ſtellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn.
II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cycloſtoma), die älteſte
Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute noch vertreten durch
die Pricken (Petromyzonteſ) und die Inger (Myxinoideſ); das
Vorderende des Markrohrs ſchwillt zu einer Blaſe an, welche
ſich in fünf hinter einander liegende Hirnblaſen ſondert (Groß-
hirn, Zwiſchenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); dieſe fünf
Hirnblaſen bilden die gemeinſame Grundlage, aus welcher ſich
das Gehirn ſämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken
bis zum Menſchen hinauf. III. Dritte Stufe: Urfiſche
(Selachii), ähnlich den heutigen Haifiſchen; bei dieſen älteſten
Fiſchen, von denen alle Kiefermäuler (Gnathoſtoma) abſtammen,
beginnt die ſtärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblaſen.
IV. Vierte Stufe: Lurche (Amphibia). Mit dieſer älteſten
Klaſſe der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerſt in der Stein-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0208" n="192"/><fw place="top" type="header">Stammesge&#x017F;chichte des Markrohrs. <hi rendition="#aq">IX.</hi></fw><lb/><hi rendition="#g">naturgemäßen P&#x017F;ychologie</hi> i&#x017F;t, er&#x017F;cheint es zweckmäßig,<lb/>
jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder<lb/>
Haupt-Ab&#x017F;chnitten einzutheilen; in jedem der&#x017F;elben hat &#x017F;ich gleich-<lb/>
mäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch &#x017F;eine Funktion,<lb/>
die &#x201E;P&#x017F;yche&#x201C; vervollkommnet. Ich unter&#x017F;cheide acht &#x017F;olche <hi rendition="#g">Pe-<lb/>
rioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs</hi>,<lb/>
charakteri&#x017F;irt durch acht ver&#x017F;chiedene Hauptgruppen der Wirbel-<lb/>
thiere; nämlich <hi rendition="#aq">I.</hi> die Schädello&#x017F;en <hi rendition="#aq">(Acrania)</hi>, <hi rendition="#aq">II.</hi> die Rund-<lb/>
mäuler <hi rendition="#aq">(Cyclo&#x017F;toma)</hi>, <hi rendition="#aq">III.</hi> die Fi&#x017F;che <hi rendition="#aq">(Pi&#x017F;ce&#x017F;)</hi>, <hi rendition="#aq">IV.</hi> die Lurche<lb/><hi rendition="#aq">(Amphibia)</hi>, <hi rendition="#aq">V.</hi> die implacentalen Säugethiere (<hi rendition="#aq">Monotrema</hi> und<lb/><hi rendition="#aq">Mar&#x017F;upialia</hi>), <hi rendition="#aq">VI.</hi> die älteren placentalen Säugethiere, be&#x017F;onders<lb/>
die Halbaffen <hi rendition="#aq">(Pro&#x017F;imiae)</hi>, <hi rendition="#aq">VII.</hi> die jüngeren Herrenthiere, die<lb/>
echten Affen <hi rendition="#aq">(Simiae)</hi>, <hi rendition="#aq">VIII.</hi> die Men&#x017F;chenaffen und der Men&#x017F;ch<lb/><hi rendition="#aq">(Anthropomorpha)</hi>.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">I.</hi> Er&#x017F;te Stufe: <hi rendition="#g">Schädello&#x017F;e</hi> <hi rendition="#aq">(Acrania)</hi>, heute nur noch<lb/>
vertreten durch den Lanzelot <hi rendition="#aq">(Amphioxu&#x017F;)</hi>; das Seelenorgan<lb/>
bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs &#x017F;tehen und<lb/>
&#x017F;tellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn.<lb/><hi rendition="#aq">II.</hi> Zweite Stufe: <hi rendition="#g">Rundmäuler</hi> <hi rendition="#aq">(Cyclo&#x017F;toma)</hi>, die älte&#x017F;te<lb/>
Gruppe der Schädelthiere <hi rendition="#aq">(Craniota)</hi>, heute noch vertreten durch<lb/>
die Pricken <hi rendition="#aq">(Petromyzonte&#x017F;)</hi> und die Inger <hi rendition="#aq">(Myxinoide&#x017F;)</hi>; das<lb/>
Vorderende des Markrohrs &#x017F;chwillt zu einer Bla&#x017F;e an, welche<lb/>
&#x017F;ich in fünf hinter einander liegende Hirnbla&#x017F;en &#x017F;ondert (Groß-<lb/>
hirn, Zwi&#x017F;chenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); die&#x017F;e fünf<lb/>
Hirnbla&#x017F;en bilden die gemein&#x017F;ame Grundlage, aus welcher &#x017F;ich<lb/>
das Gehirn &#x017F;ämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken<lb/>
bis zum Men&#x017F;chen hinauf. <hi rendition="#aq">III.</hi> Dritte Stufe: <hi rendition="#g">Urfi&#x017F;che</hi><lb/><hi rendition="#aq">(Selachii)</hi>, ähnlich den heutigen Haifi&#x017F;chen; bei die&#x017F;en älte&#x017F;ten<lb/>
Fi&#x017F;chen, von denen alle Kiefermäuler <hi rendition="#aq">(Gnatho&#x017F;toma)</hi> ab&#x017F;tammen,<lb/>
beginnt die &#x017F;tärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnbla&#x017F;en.<lb/><hi rendition="#aq">IV.</hi> Vierte Stufe: <hi rendition="#g">Lurche</hi> <hi rendition="#aq">(Amphibia)</hi>. Mit die&#x017F;er älte&#x017F;ten<lb/>
Kla&#x017F;&#x017F;e der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuer&#x017F;t in der Stein-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0208] Stammesgeſchichte des Markrohrs. IX. naturgemäßen Pſychologie iſt, erſcheint es zweckmäßig, jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder Haupt-Abſchnitten einzutheilen; in jedem derſelben hat ſich gleich- mäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch ſeine Funktion, die „Pſyche“ vervollkommnet. Ich unterſcheide acht ſolche Pe- rioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs, charakteriſirt durch acht verſchiedene Hauptgruppen der Wirbel- thiere; nämlich I. die Schädelloſen (Acrania), II. die Rund- mäuler (Cycloſtoma), III. die Fiſche (Piſceſ), IV. die Lurche (Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere (Monotrema und Marſupialia), VI. die älteren placentalen Säugethiere, beſonders die Halbaffen (Proſimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die echten Affen (Simiae), VIII. die Menſchenaffen und der Menſch (Anthropomorpha). I. Erſte Stufe: Schädelloſe (Acrania), heute nur noch vertreten durch den Lanzelot (Amphioxuſ); das Seelenorgan bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs ſtehen und ſtellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn. II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cycloſtoma), die älteſte Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute noch vertreten durch die Pricken (Petromyzonteſ) und die Inger (Myxinoideſ); das Vorderende des Markrohrs ſchwillt zu einer Blaſe an, welche ſich in fünf hinter einander liegende Hirnblaſen ſondert (Groß- hirn, Zwiſchenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); dieſe fünf Hirnblaſen bilden die gemeinſame Grundlage, aus welcher ſich das Gehirn ſämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken bis zum Menſchen hinauf. III. Dritte Stufe: Urfiſche (Selachii), ähnlich den heutigen Haifiſchen; bei dieſen älteſten Fiſchen, von denen alle Kiefermäuler (Gnathoſtoma) abſtammen, beginnt die ſtärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblaſen. IV. Vierte Stufe: Lurche (Amphibia). Mit dieſer älteſten Klaſſe der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerſt in der Stein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/208
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/208>, abgerufen am 27.04.2024.