Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.IX. Markrohr der Wirbelthiere. Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigenthümlich-keiten des Körperbaues (besonders in der Bildung der Chorda und des Kiemendarms) auffallende Unterschiede von den übrigen Wirbellosen und Uebereinstimmung mit den Wirbelthieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide Thierstämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer gemeinsamen älteren Stammgruppe von Vermalien hervorgegangen sind, aus den Prochordo- niern *). Ein wichtiger Unterschied beider Stämme besteht darin, daß der Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und eine sehr einfache Organisation behält (die meisten sitzen später auf dem Meeresboden fest und werden rückgebildet). Bei den Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteristische innere Gliederung des Körpers ein, die "Urwirbelbildung" (Vertebratio). Diese vermittelt die weit höhere morphologische und physiologische Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt im Menschen die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht. Sie prägt sich auch frühzeitig schon in der feineren Struktur ihres Markrohres aus, in der Entwickelung zahlreicher segmentaler Nervenpaare, die als Rückenmarks-Nerven oder "Spinal-Nerven" an die einzelnen Körper-Segmente gehen. Phyletische Bildungsstufen des Medullar-Rohrs. Die *) Haeckel, Anthropogenie, vierte Auflage 1891, Vortrag 16 und 17.
"Körperbau und Keimesgeschichte des Amphioxus und der Ascidie." IX. Markrohr der Wirbelthiere. Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigenthümlich-keiten des Körperbaues (beſonders in der Bildung der Chorda und des Kiemendarms) auffallende Unterſchiede von den übrigen Wirbelloſen und Uebereinſtimmung mit den Wirbelthieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide Thierſtämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer gemeinſamen älteren Stammgruppe von Vermalien hervorgegangen ſind, aus den Prochordo- niern *). Ein wichtiger Unterſchied beider Stämme beſteht darin, daß der Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und eine ſehr einfache Organiſation behält (die meiſten ſitzen ſpäter auf dem Meeresboden feſt und werden rückgebildet). Bei den Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteriſtiſche innere Gliederung des Körpers ein, die „Urwirbelbildung“ (Vertebratio). Dieſe vermittelt die weit höhere morphologiſche und phyſiologiſche Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt im Menſchen die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht. Sie prägt ſich auch frühzeitig ſchon in der feineren Struktur ihres Markrohres aus, in der Entwickelung zahlreicher ſegmentaler Nervenpaare, die als Rückenmarks-Nerven oder „Spinal-Nerven“ an die einzelnen Körper-Segmente gehen. Phyletiſche Bildungsſtufen des Medullar-Rohrs. Die *) Haeckel, Anthropogenie, vierte Auflage 1891, Vortrag 16 und 17.
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IX. Markrohr der Wirbelthiere.
Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigenthümlich-
keiten des Körperbaues (beſonders in der Bildung der Chorda
und des Kiemendarms) auffallende Unterſchiede von den übrigen
Wirbelloſen und Uebereinſtimmung mit den Wirbelthieren. Wir
nehmen daher jetzt an, daß beide Thierſtämme, Vertebraten
und Tunikaten, aus einer gemeinſamen älteren Stammgruppe
von Vermalien hervorgegangen ſind, aus den Prochordo-
niern *). Ein wichtiger Unterſchied beider Stämme beſteht
darin, daß der Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und
eine ſehr einfache Organiſation behält (die meiſten ſitzen ſpäter
auf dem Meeresboden feſt und werden rückgebildet). Bei den
Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteriſtiſche innere
Gliederung des Körpers ein, die „Urwirbelbildung“
(Vertebratio). Dieſe vermittelt die weit höhere morphologiſche
und phyſiologiſche Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt
im Menſchen die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht. Sie
prägt ſich auch frühzeitig ſchon in der feineren Struktur ihres
Markrohres aus, in der Entwickelung zahlreicher ſegmentaler
Nervenpaare, die als Rückenmarks-Nerven oder „Spinal-Nerven“
an die einzelnen Körper-Segmente gehen.
Phyletiſche Bildungsſtufen des Medullar-Rohrs. Die
lange Stammesgeſchichte unſerer „Wirbelthier-Seele“ beginnt
mit der Bildung des einfachſten Medullar-Rohrs bei den älteſten
Schädelloſen; ſie führt uns durch einen Zeitraum von vielen
Millionen Jahren langſam und allmählich bis zu jenem kompli-
cirten Wunderbau des menſchlichen Gehirns hinauf, welcher dieſe
höchſtentwickelte Primaten-Form zu einer vollkommenen Ausnahme-
Stellung in der Natur zu berechtigen ſcheint. Da eine klare
Vorſtellung von dieſem langſamen und ſtetigen Gange unſerer
phyletiſchen Pſychogenie die erſte Vorbedingung einer wirklich
*) Haeckel, Anthropogenie, vierte Auflage 1891, Vortrag 16 und 17.
„Körperbau und Keimesgeſchichte des Amphioxus und der Ascidie.“
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Zitationshilfe: | Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/207>, abgerufen am 16.02.2025. |