diesen beschränkten Standpunkt erhoben und das letzte Ziel in einer Erkenntniß allgemeiner Organisationsgesetze finden wollten. Jndessen die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den letzten drei bis vier Decennien wollte von solchen allgemeinen Gesetzen Nichts wis- sen; sie gestanden höchstens zu, daß vielleicht in ganz entfernter Zu- kunft, wenn man einmal am Ende aller empirischen Erkenntniß an- gelangt sein würde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll- ständig untersucht worden seien, man daran denken könne, allgemeine biologische Gesetze zu entdecken.
Wenn Sie die wichtigsten Fortschritte, die der menschliche Geist in der Erkenntniß der Wahrheit gemacht hat, zusammenfassend ver- gleichen, so werden Sie bald sehen, daß es stets philosophische Ge- dankenoperationen sind, durch welche diese Fortschritte erzielt wurden, und daß jene, allerdings nothwendig vorhergehende sinnliche Erfah- rung und die dadurch gewonnene Kenntniß des Einzelnen nur die Grundlage für jene allgemeinen Gesetze liefern. Empirie und Philo- sophie stehen daher keineswegs in so ausschließendem Gegensatz zu einander, wie es bisher von den Meisten angenommen wurde; sie ergänzen sich vielmehr nothwendig. Der Philosoph, welchem der un- umstößliche Boden der sinnlichen Erfahrung, der empirischen Kennt- niß fehlt, gelangt in seinen allgemeinen Speculationen sehr leicht zu Fehlschlüssen, welche selbst ein mäßig gebildeter Naturforscher sofort wi- derlegen kann. Andrerseits können die rein empirischen Naturfor- scher, die sich nicht um philosophische Zusammenfassung ihrer sinnli- chen Wahrnehmungen bemühen, und nicht nach allgemeinen Erkennt- nissen streben, die Wissenschaft nur in sehr geringem Maße fördern, und der Hauptwerth ihrer mühsam gewonnenen Einzelkenntnisse liegt in den allgemeinen Resultaten, welche später umfassendere Geister aus denselben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick über den Entwi- ckelungsgang der Biologie seit Linne finden Sie leicht, wie dies Bär ausgeführt hat, ein beständiges Schwanken zwischen diesen beiden Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empirischen (sogenannten exakten) und dann wieder der philosophischen (speculativen) Richtung.
Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 5
Empirie und Philoſophie.
dieſen beſchraͤnkten Standpunkt erhoben und das letzte Ziel in einer Erkenntniß allgemeiner Organiſationsgeſetze finden wollten. Jndeſſen die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den letzten drei bis vier Decennien wollte von ſolchen allgemeinen Geſetzen Nichts wiſ- ſen; ſie geſtanden hoͤchſtens zu, daß vielleicht in ganz entfernter Zu- kunft, wenn man einmal am Ende aller empiriſchen Erkenntniß an- gelangt ſein wuͤrde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll- ſtaͤndig unterſucht worden ſeien, man daran denken koͤnne, allgemeine biologiſche Geſetze zu entdecken.
Wenn Sie die wichtigſten Fortſchritte, die der menſchliche Geiſt in der Erkenntniß der Wahrheit gemacht hat, zuſammenfaſſend ver- gleichen, ſo werden Sie bald ſehen, daß es ſtets philoſophiſche Ge- dankenoperationen ſind, durch welche dieſe Fortſchritte erzielt wurden, und daß jene, allerdings nothwendig vorhergehende ſinnliche Erfah- rung und die dadurch gewonnene Kenntniß des Einzelnen nur die Grundlage fuͤr jene allgemeinen Geſetze liefern. Empirie und Philo- ſophie ſtehen daher keineswegs in ſo ausſchließendem Gegenſatz zu einander, wie es bisher von den Meiſten angenommen wurde; ſie ergaͤnzen ſich vielmehr nothwendig. Der Philoſoph, welchem der un- umſtoͤßliche Boden der ſinnlichen Erfahrung, der empiriſchen Kennt- niß fehlt, gelangt in ſeinen allgemeinen Speculationen ſehr leicht zu Fehlſchluͤſſen, welche ſelbſt ein maͤßig gebildeter Naturforſcher ſofort wi- derlegen kann. Andrerſeits koͤnnen die rein empiriſchen Naturfor- ſcher, die ſich nicht um philoſophiſche Zuſammenfaſſung ihrer ſinnli- chen Wahrnehmungen bemuͤhen, und nicht nach allgemeinen Erkennt- niſſen ſtreben, die Wiſſenſchaft nur in ſehr geringem Maße foͤrdern, und der Hauptwerth ihrer muͤhſam gewonnenen Einzelkenntniſſe liegt in den allgemeinen Reſultaten, welche ſpaͤter umfaſſendere Geiſter aus denſelben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick uͤber den Entwi- ckelungsgang der Biologie ſeit Linné finden Sie leicht, wie dies Baͤr ausgefuͤhrt hat, ein beſtaͤndiges Schwanken zwiſchen dieſen beiden Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empiriſchen (ſogenannten exakten) und dann wieder der philoſophiſchen (ſpeculativen) Richtung.
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 5
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0086"n="65"/><fwplace="top"type="header">Empirie und Philoſophie.</fw><lb/>
dieſen beſchraͤnkten Standpunkt erhoben und das letzte Ziel in einer<lb/>
Erkenntniß allgemeiner Organiſationsgeſetze finden wollten. Jndeſſen<lb/>
die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den letzten drei<lb/>
bis vier Decennien wollte von ſolchen allgemeinen Geſetzen Nichts wiſ-<lb/>ſen; ſie geſtanden hoͤchſtens zu, daß vielleicht in ganz entfernter Zu-<lb/>
kunft, wenn man einmal am Ende aller empiriſchen Erkenntniß an-<lb/>
gelangt ſein wuͤrde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll-<lb/>ſtaͤndig unterſucht worden ſeien, man daran denken koͤnne, allgemeine<lb/>
biologiſche Geſetze zu entdecken.</p><lb/><p>Wenn Sie die wichtigſten Fortſchritte, die der menſchliche Geiſt<lb/>
in der Erkenntniß der Wahrheit gemacht hat, zuſammenfaſſend ver-<lb/>
gleichen, ſo werden Sie bald ſehen, daß es ſtets philoſophiſche Ge-<lb/>
dankenoperationen ſind, durch welche dieſe Fortſchritte erzielt wurden,<lb/>
und daß jene, allerdings nothwendig vorhergehende ſinnliche Erfah-<lb/>
rung und die dadurch gewonnene Kenntniß des Einzelnen nur die<lb/>
Grundlage fuͤr jene allgemeinen Geſetze liefern. Empirie und Philo-<lb/>ſophie ſtehen daher keineswegs in ſo ausſchließendem Gegenſatz zu<lb/>
einander, wie es bisher von den Meiſten angenommen wurde; ſie<lb/>
ergaͤnzen ſich vielmehr nothwendig. Der Philoſoph, welchem der un-<lb/>
umſtoͤßliche Boden der ſinnlichen Erfahrung, der empiriſchen Kennt-<lb/>
niß fehlt, gelangt in ſeinen allgemeinen Speculationen ſehr leicht zu<lb/>
Fehlſchluͤſſen, welche ſelbſt ein maͤßig gebildeter Naturforſcher ſofort wi-<lb/>
derlegen kann. Andrerſeits koͤnnen die rein empiriſchen Naturfor-<lb/>ſcher, die ſich nicht um philoſophiſche Zuſammenfaſſung ihrer ſinnli-<lb/>
chen Wahrnehmungen bemuͤhen, und nicht nach allgemeinen Erkennt-<lb/>
niſſen ſtreben, die Wiſſenſchaft nur in ſehr geringem Maße foͤrdern,<lb/>
und der Hauptwerth ihrer muͤhſam gewonnenen Einzelkenntniſſe liegt<lb/>
in den allgemeinen Reſultaten, welche ſpaͤter umfaſſendere Geiſter aus<lb/>
denſelben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick uͤber den Entwi-<lb/>
ckelungsgang der Biologie ſeit <hirendition="#g">Linn<hirendition="#aq">é</hi></hi> finden Sie leicht, wie dies <hirendition="#g">Baͤr</hi><lb/>
ausgefuͤhrt hat, ein beſtaͤndiges Schwanken zwiſchen dieſen beiden<lb/>
Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empiriſchen (ſogenannten<lb/>
exakten) und dann wieder der philoſophiſchen (ſpeculativen) Richtung.<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 5</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[65/0086]
Empirie und Philoſophie.
dieſen beſchraͤnkten Standpunkt erhoben und das letzte Ziel in einer
Erkenntniß allgemeiner Organiſationsgeſetze finden wollten. Jndeſſen
die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den letzten drei
bis vier Decennien wollte von ſolchen allgemeinen Geſetzen Nichts wiſ-
ſen; ſie geſtanden hoͤchſtens zu, daß vielleicht in ganz entfernter Zu-
kunft, wenn man einmal am Ende aller empiriſchen Erkenntniß an-
gelangt ſein wuͤrde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll-
ſtaͤndig unterſucht worden ſeien, man daran denken koͤnne, allgemeine
biologiſche Geſetze zu entdecken.
Wenn Sie die wichtigſten Fortſchritte, die der menſchliche Geiſt
in der Erkenntniß der Wahrheit gemacht hat, zuſammenfaſſend ver-
gleichen, ſo werden Sie bald ſehen, daß es ſtets philoſophiſche Ge-
dankenoperationen ſind, durch welche dieſe Fortſchritte erzielt wurden,
und daß jene, allerdings nothwendig vorhergehende ſinnliche Erfah-
rung und die dadurch gewonnene Kenntniß des Einzelnen nur die
Grundlage fuͤr jene allgemeinen Geſetze liefern. Empirie und Philo-
ſophie ſtehen daher keineswegs in ſo ausſchließendem Gegenſatz zu
einander, wie es bisher von den Meiſten angenommen wurde; ſie
ergaͤnzen ſich vielmehr nothwendig. Der Philoſoph, welchem der un-
umſtoͤßliche Boden der ſinnlichen Erfahrung, der empiriſchen Kennt-
niß fehlt, gelangt in ſeinen allgemeinen Speculationen ſehr leicht zu
Fehlſchluͤſſen, welche ſelbſt ein maͤßig gebildeter Naturforſcher ſofort wi-
derlegen kann. Andrerſeits koͤnnen die rein empiriſchen Naturfor-
ſcher, die ſich nicht um philoſophiſche Zuſammenfaſſung ihrer ſinnli-
chen Wahrnehmungen bemuͤhen, und nicht nach allgemeinen Erkennt-
niſſen ſtreben, die Wiſſenſchaft nur in ſehr geringem Maße foͤrdern,
und der Hauptwerth ihrer muͤhſam gewonnenen Einzelkenntniſſe liegt
in den allgemeinen Reſultaten, welche ſpaͤter umfaſſendere Geiſter aus
denſelben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick uͤber den Entwi-
ckelungsgang der Biologie ſeit Linné finden Sie leicht, wie dies Baͤr
ausgefuͤhrt hat, ein beſtaͤndiges Schwanken zwiſchen dieſen beiden
Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empiriſchen (ſogenannten
exakten) und dann wieder der philoſophiſchen (ſpeculativen) Richtung.
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/86>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.