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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Stufenweise Entwickelung des menschlichen Seelenlebens.
lichen, nicht von der geistigen Entwickelung des Menschen gelte.
Da wir nun bisher uns bloß mit der ersteren beschäftigt haben, so ist
es wohl nothwendig, hier auch noch auf die letztere einen Blick zu wer-
fen, und zu zeigen, daß auch sie jenem großen allgemeinen Entwicke-
lungsgesetze unterworfen ist. Dabei ist es vor Allem nothwendig, sich
in's Gedächtniß zurückzurufen, wie überhaupt das Geistige vom Kör-
perlichen nie völlig geschieden werden kann, beide Seiten der Natur
vielmehr unzertrennlich verbunden sind, und in der innigsten Wechsel-
wirkung mit einander stehen. Wie schon Goethe klar aussprach, "kann
die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiren und
wirksam sein". Der künstliche Zwiespalt, welchen die falsche duali-
stische und teleologische Philosophie der Vergangenheit zwischen Geist und
Körper, zwischen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, ist durch die Fort-
schritte der Naturerkenntniß und namentlich der Entwickelungslehre auf-
gelöst, und kann gegenüber der siegreichen mechanischen und monisti-
schen Philosophie unserer Zeit nicht mehr bestehen. Wie demgemäß
die Menschennatur in ihrer Stellung zur übrigen Welt aufgefaßt wer-
den muß, hat in neuerer Zeit besonders Radenhausen in seiner
vortrefflichen und sehr lesenswerthen Jsis ausführlich erörtert 33).

Was nun speciell den Ursprung des menschlichen Geistes oder
der Seele des Menschen betrifft, so nehmen wir zunächst an jedem
menschlichen Jndividuum wahr, daß sich derselbe von Anfang an
schrittweise und allmählich entwickelt, ebenso wie der Körper. Wir
sehen am neugeborenen Kinde, daß dasselbe weder selbstständiges Be-
wußtsein, noch überhaupt klare Vorstellungen besitzt. Diese entstehen
erst allmählich, wenn mittelst der sinnlichen Erfahrung die Erscheinun-
gen der Außenwelt auf das Centralnervensystem einwirken. Aber noch
entbehrt das kleine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen,
welche der erwachsene Mensch erst durch langjährige Erfahrung er-
wirbt. Aus dieser stufenweisen Entwickelung der Menschenseele in je-
dem einzelnen Jndividuum können wir nun, gemäß dem innigen ursäch-
lichen Zusammenhang zwischen Ontogenie und Phylogenie, unmittel-
bar auf die stufenweise Entwickelung der Menschenseele in der ganzen

Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 35

Stufenweiſe Entwickelung des menſchlichen Seelenlebens.
lichen, nicht von der geiſtigen Entwickelung des Menſchen gelte.
Da wir nun bisher uns bloß mit der erſteren beſchaͤftigt haben, ſo iſt
es wohl nothwendig, hier auch noch auf die letztere einen Blick zu wer-
fen, und zu zeigen, daß auch ſie jenem großen allgemeinen Entwicke-
lungsgeſetze unterworfen iſt. Dabei iſt es vor Allem nothwendig, ſich
in’s Gedaͤchtniß zuruͤckzurufen, wie uͤberhaupt das Geiſtige vom Koͤr-
perlichen nie voͤllig geſchieden werden kann, beide Seiten der Natur
vielmehr unzertrennlich verbunden ſind, und in der innigſten Wechſel-
wirkung mit einander ſtehen. Wie ſchon Goethe klar ausſprach, „kann
die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtiren und
wirkſam ſein“. Der kuͤnſtliche Zwieſpalt, welchen die falſche duali-
ſtiſche und teleologiſche Philoſophie der Vergangenheit zwiſchen Geiſt und
Koͤrper, zwiſchen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, iſt durch die Fort-
ſchritte der Naturerkenntniß und namentlich der Entwickelungslehre auf-
geloͤſt, und kann gegenuͤber der ſiegreichen mechaniſchen und moniſti-
ſchen Philoſophie unſerer Zeit nicht mehr beſtehen. Wie demgemaͤß
die Menſchennatur in ihrer Stellung zur uͤbrigen Welt aufgefaßt wer-
den muß, hat in neuerer Zeit beſonders Radenhauſen in ſeiner
vortrefflichen und ſehr leſenswerthen Jſis ausfuͤhrlich eroͤrtert 33).

Was nun ſpeciell den Urſprung des menſchlichen Geiſtes oder
der Seele des Menſchen betrifft, ſo nehmen wir zunaͤchſt an jedem
menſchlichen Jndividuum wahr, daß ſich derſelbe von Anfang an
ſchrittweiſe und allmaͤhlich entwickelt, ebenſo wie der Koͤrper. Wir
ſehen am neugeborenen Kinde, daß daſſelbe weder ſelbſtſtaͤndiges Be-
wußtſein, noch uͤberhaupt klare Vorſtellungen beſitzt. Dieſe entſtehen
erſt allmaͤhlich, wenn mittelſt der ſinnlichen Erfahrung die Erſcheinun-
gen der Außenwelt auf das Centralnervenſyſtem einwirken. Aber noch
entbehrt das kleine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen,
welche der erwachſene Menſch erſt durch langjaͤhrige Erfahrung er-
wirbt. Aus dieſer ſtufenweiſen Entwickelung der Menſchenſeele in je-
dem einzelnen Jndividuum koͤnnen wir nun, gemaͤß dem innigen urſaͤch-
lichen Zuſammenhang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, unmittel-
bar auf die ſtufenweiſe Entwickelung der Menſchenſeele in der ganzen

Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 35
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[545/0570] Stufenweiſe Entwickelung des menſchlichen Seelenlebens. lichen, nicht von der geiſtigen Entwickelung des Menſchen gelte. Da wir nun bisher uns bloß mit der erſteren beſchaͤftigt haben, ſo iſt es wohl nothwendig, hier auch noch auf die letztere einen Blick zu wer- fen, und zu zeigen, daß auch ſie jenem großen allgemeinen Entwicke- lungsgeſetze unterworfen iſt. Dabei iſt es vor Allem nothwendig, ſich in’s Gedaͤchtniß zuruͤckzurufen, wie uͤberhaupt das Geiſtige vom Koͤr- perlichen nie voͤllig geſchieden werden kann, beide Seiten der Natur vielmehr unzertrennlich verbunden ſind, und in der innigſten Wechſel- wirkung mit einander ſtehen. Wie ſchon Goethe klar ausſprach, „kann die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtiren und wirkſam ſein“. Der kuͤnſtliche Zwieſpalt, welchen die falſche duali- ſtiſche und teleologiſche Philoſophie der Vergangenheit zwiſchen Geiſt und Koͤrper, zwiſchen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, iſt durch die Fort- ſchritte der Naturerkenntniß und namentlich der Entwickelungslehre auf- geloͤſt, und kann gegenuͤber der ſiegreichen mechaniſchen und moniſti- ſchen Philoſophie unſerer Zeit nicht mehr beſtehen. Wie demgemaͤß die Menſchennatur in ihrer Stellung zur uͤbrigen Welt aufgefaßt wer- den muß, hat in neuerer Zeit beſonders Radenhauſen in ſeiner vortrefflichen und ſehr leſenswerthen Jſis ausfuͤhrlich eroͤrtert 33). Was nun ſpeciell den Urſprung des menſchlichen Geiſtes oder der Seele des Menſchen betrifft, ſo nehmen wir zunaͤchſt an jedem menſchlichen Jndividuum wahr, daß ſich derſelbe von Anfang an ſchrittweiſe und allmaͤhlich entwickelt, ebenſo wie der Koͤrper. Wir ſehen am neugeborenen Kinde, daß daſſelbe weder ſelbſtſtaͤndiges Be- wußtſein, noch uͤberhaupt klare Vorſtellungen beſitzt. Dieſe entſtehen erſt allmaͤhlich, wenn mittelſt der ſinnlichen Erfahrung die Erſcheinun- gen der Außenwelt auf das Centralnervenſyſtem einwirken. Aber noch entbehrt das kleine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen, welche der erwachſene Menſch erſt durch langjaͤhrige Erfahrung er- wirbt. Aus dieſer ſtufenweiſen Entwickelung der Menſchenſeele in je- dem einzelnen Jndividuum koͤnnen wir nun, gemaͤß dem innigen urſaͤch- lichen Zuſammenhang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, unmittel- bar auf die ſtufenweiſe Entwickelung der Menſchenſeele in der ganzen Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 35

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/570>, abgerufen am 22.11.2024.