großen, markigen Zügen das Bild der Formenreihe, welche die Vor- fahren des betreffenden Jndividuums von der Wurzel ihres Stam- mes an durchlaufen haben. Jndem wir diese paläontologische Ent- wickelungsgeschichte der Vorfahren als Stammesgeschichte oder Phy- logenie bezeichneten, konnten wir den höchst wichtigen Satz aus- sprechen: "Die Ontogenie ist eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung oder Recapitulation der Phylogenie. Jn- dem jedes Thier und jedes Gewächs vom Beginn seiner individuellen Existenz an eine Reihe von ganz verschiedenen Formzuständen durch- läuft, deutet es uns in schneller Folge und in allgemeinen Umrissen die lange und langsam wechselnde Reihe von Formzuständen an, welche seine Ahnen seit den ältesten Zeiten durchlaufen haben (Gen. Morph. II. 6, 110, 300).
Allerdings ist die Skizze, welche uns die Ontogenie der Orga- nismen von ihrer Phylogenie giebt, in den meisten Fällen mehr oder weniger verwischt, und zwar um so mehr, je mehr die Anpassung im Laufe der Zeit das Uebergewicht über die Vererbung erlangt hat, und je mächtiger das Gesetz der abgekürzten Vererbung und das Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung eingewirkt hat. Allein dadurch wird der hohe Werth nicht vermindert, welchen die wirklich treu er- haltenen Züge jener Skizze besitzen. Besonders für die Erkenntniß der frühesten Entwickelungszustände ist die Ontogenie von ganz unschätz- barem Werthe, weil gerade von den ältesten Entwickelungszustän- den der Stämme und Klassen uns gar keine versteinerten Reste er- halten worden sind und auch schon wegen der weichen und zarten Körperbeschaffenheit derselben nicht erhalten bleiben konnten. Keine Versteinerung könnte uns von der unschätzbar wichtigen Thatsache be- richten, welche die Ontogenie uns erzählt, daß die ältesten gemein- samen Vorfahren aller verschiedenen Thier- und Pflanzenarten ganz einfache Zellen, gleich den Eiern waren. Keine Versteinerung könnte uns die unendlich werthvolle durch die Ontogenie festgestellte Thatsache beweisen, daß durch einfache Vermehrung, Gemeindebildung und
Die Schoͤpfungsurkunde der Ontogenie.
großen, markigen Zuͤgen das Bild der Formenreihe, welche die Vor- fahren des betreffenden Jndividuums von der Wurzel ihres Stam- mes an durchlaufen haben. Jndem wir dieſe palaͤontologiſche Ent- wickelungsgeſchichte der Vorfahren als Stammesgeſchichte oder Phy- logenie bezeichneten, konnten wir den hoͤchſt wichtigen Satz aus- ſprechen: „Die Ontogenie iſt eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wiederholung oder Recapitulation der Phylogenie. Jn- dem jedes Thier und jedes Gewaͤchs vom Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz an eine Reihe von ganz verſchiedenen Formzuſtaͤnden durch- laͤuft, deutet es uns in ſchneller Folge und in allgemeinen Umriſſen die lange und langſam wechſelnde Reihe von Formzuſtaͤnden an, welche ſeine Ahnen ſeit den aͤlteſten Zeiten durchlaufen haben (Gen. Morph. II. 6, 110, 300).
Allerdings iſt die Skizze, welche uns die Ontogenie der Orga- nismen von ihrer Phylogenie giebt, in den meiſten Faͤllen mehr oder weniger verwiſcht, und zwar um ſo mehr, je mehr die Anpaſſung im Laufe der Zeit das Uebergewicht uͤber die Vererbung erlangt hat, und je maͤchtiger das Geſetz der abgekuͤrzten Vererbung und das Geſetz der wechſelbezuͤglichen Anpaſſung eingewirkt hat. Allein dadurch wird der hohe Werth nicht vermindert, welchen die wirklich treu er- haltenen Zuͤge jener Skizze beſitzen. Beſonders fuͤr die Erkenntniß der fruͤheſten Entwickelungszuſtaͤnde iſt die Ontogenie von ganz unſchaͤtz- barem Werthe, weil gerade von den aͤlteſten Entwickelungszuſtaͤn- den der Staͤmme und Klaſſen uns gar keine verſteinerten Reſte er- halten worden ſind und auch ſchon wegen der weichen und zarten Koͤrperbeſchaffenheit derſelben nicht erhalten bleiben konnten. Keine Verſteinerung koͤnnte uns von der unſchaͤtzbar wichtigen Thatſache be- richten, welche die Ontogenie uns erzaͤhlt, daß die aͤlteſten gemein- ſamen Vorfahren aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten ganz einfache Zellen, gleich den Eiern waren. Keine Verſteinerung koͤnnte uns die unendlich werthvolle durch die Ontogenie feſtgeſtellte Thatſache beweiſen, daß durch einfache Vermehrung, Gemeindebildung und
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Die Schoͤpfungsurkunde der Ontogenie.
großen, markigen Zuͤgen das Bild der Formenreihe, welche die Vor-
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mes an durchlaufen haben. Jndem wir dieſe palaͤontologiſche Ent-
wickelungsgeſchichte der Vorfahren als Stammesgeſchichte oder Phy-
logenie bezeichneten, konnten wir den hoͤchſt wichtigen Satz aus-
ſprechen: „Die Ontogenie iſt eine kurze und ſchnelle, durch
die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte
Wiederholung oder Recapitulation der Phylogenie. Jn-
dem jedes Thier und jedes Gewaͤchs vom Beginn ſeiner individuellen
Exiſtenz an eine Reihe von ganz verſchiedenen Formzuſtaͤnden durch-
laͤuft, deutet es uns in ſchneller Folge und in allgemeinen Umriſſen
die lange und langſam wechſelnde Reihe von Formzuſtaͤnden an,
welche ſeine Ahnen ſeit den aͤlteſten Zeiten durchlaufen haben (Gen.
Morph. II. 6, 110, 300).
Allerdings iſt die Skizze, welche uns die Ontogenie der Orga-
nismen von ihrer Phylogenie giebt, in den meiſten Faͤllen mehr oder
weniger verwiſcht, und zwar um ſo mehr, je mehr die Anpaſſung im
Laufe der Zeit das Uebergewicht uͤber die Vererbung erlangt hat, und
je maͤchtiger das Geſetz der abgekuͤrzten Vererbung und das Geſetz
der wechſelbezuͤglichen Anpaſſung eingewirkt hat. Allein dadurch
wird der hohe Werth nicht vermindert, welchen die wirklich treu er-
haltenen Zuͤge jener Skizze beſitzen. Beſonders fuͤr die Erkenntniß der
fruͤheſten Entwickelungszuſtaͤnde iſt die Ontogenie von ganz unſchaͤtz-
barem Werthe, weil gerade von den aͤlteſten Entwickelungszuſtaͤn-
den der Staͤmme und Klaſſen uns gar keine verſteinerten Reſte er-
halten worden ſind und auch ſchon wegen der weichen und zarten
Koͤrperbeſchaffenheit derſelben nicht erhalten bleiben konnten. Keine
Verſteinerung koͤnnte uns von der unſchaͤtzbar wichtigen Thatſache be-
richten, welche die Ontogenie uns erzaͤhlt, daß die aͤlteſten gemein-
ſamen Vorfahren aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten ganz
einfache Zellen, gleich den Eiern waren. Keine Verſteinerung koͤnnte
uns die unendlich werthvolle durch die Ontogenie feſtgeſtellte Thatſache
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/339>, abgerufen am 26.06.2024.
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