Unvollkommenheit der paläontologischen Schöpfungsurkunde.
logie besitzen. Wie es durch diese beiden uralten Jnschriften möglich wurde, die Geschichte des alten Egyptens außerordentlich zu erweitern, und die ganze Hieroglyphenschrift zu entziffern, so genügen uns in vielen Fällen einzelne Knochen eines Thieres oder unvollständige Ab- drücke einer niederen Thier- oder Pflanzenform, um die wichtig- sten Anhaltspunkte für die Geschichte einer ganzen Gruppe und die Erkenntniß ihres Stammbaums zu gewinnen.
Von der Unvollkommenheit des geologischen Schöpfungsberichtes sagt Darwin, in Uebereinstimmung mit Lyell, dem größten aller jetzt lebenden Geologen: "Der natürliche Schöpfungsbericht, wie ihn die Paläontologie liefert, ist eine Geschichte der Erde, unvollständig erhalten und in wechselnden Dialecten geschrieben, wovon aber nur der letzte, bloß auf einige Theile der Erdoberfläche sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Doch auch von diesem Bande ist nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten, und von jeder Seite sind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden Sprache dieser Beschreibung, mehr oder weniger ver- schieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abschnitte, mag den anscheinend plötzlich wechselnden Lebensformen entsprechen, welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unserer weit von einander getrennten Formationen begraben liegen."
Wenn Sie diese außerordentliche Unvollständigkeit der paläon- tologischen Urkunde sich beständig vor Augen halten, so wird es Jhnen nicht wunderbar erscheinen, daß wir noch auf so viele unsichere Hypothesen angewiesen sind, wenn wir wirklich den Stammbaum der verschiedenen organischen Gruppen entwerfen wollen. Jedoch besitzen wir glücklicher Weise außer den Versteinerungen auch noch andere Urkunden für die Stammesgeschichte der Organismen, welche in vielen Fällen von nicht geringerem und in manchen sogar von viel höherem Werthe sind als die Petrefacten. Die bei weitem wichtigste von diesen anderen Schöpfungsurkunden ist ohne Zweifel die Onto- genie oder die Entwickelungsgeschichte des organischen Jndividuums (Embryologie und Metamorphologie). Diese wiederholt uns kurz in
Unvollkommenheit der palaͤontologiſchen Schoͤpfungsurkunde.
logie beſitzen. Wie es durch dieſe beiden uralten Jnſchriften moͤglich wurde, die Geſchichte des alten Egyptens außerordentlich zu erweitern, und die ganze Hieroglyphenſchrift zu entziffern, ſo genuͤgen uns in vielen Faͤllen einzelne Knochen eines Thieres oder unvollſtaͤndige Ab- druͤcke einer niederen Thier- oder Pflanzenform, um die wichtig- ſten Anhaltspunkte fuͤr die Geſchichte einer ganzen Gruppe und die Erkenntniß ihres Stammbaums zu gewinnen.
Von der Unvollkommenheit des geologiſchen Schoͤpfungsberichtes ſagt Darwin, in Uebereinſtimmung mit Lyell, dem groͤßten aller jetzt lebenden Geologen: „Der natuͤrliche Schoͤpfungsbericht, wie ihn die Palaͤontologie liefert, iſt eine Geſchichte der Erde, unvollſtaͤndig erhalten und in wechſelnden Dialecten geſchrieben, wovon aber nur der letzte, bloß auf einige Theile der Erdoberflaͤche ſich beziehende Band bis auf uns gekommen iſt. Doch auch von dieſem Bande iſt nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten, und von jeder Seite ſind nur da und dort einige Zeilen uͤbrig. Jedes Wort der langſam wechſelnden Sprache dieſer Beſchreibung, mehr oder weniger ver- ſchieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abſchnitte, mag den anſcheinend ploͤtzlich wechſelnden Lebensformen entſprechen, welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unſerer weit von einander getrennten Formationen begraben liegen.“
Wenn Sie dieſe außerordentliche Unvollſtaͤndigkeit der palaͤon- tologiſchen Urkunde ſich beſtaͤndig vor Augen halten, ſo wird es Jhnen nicht wunderbar erſcheinen, daß wir noch auf ſo viele unſichere Hypotheſen angewieſen ſind, wenn wir wirklich den Stammbaum der verſchiedenen organiſchen Gruppen entwerfen wollen. Jedoch beſitzen wir gluͤcklicher Weiſe außer den Verſteinerungen auch noch andere Urkunden fuͤr die Stammesgeſchichte der Organismen, welche in vielen Faͤllen von nicht geringerem und in manchen ſogar von viel hoͤherem Werthe ſind als die Petrefacten. Die bei weitem wichtigſte von dieſen anderen Schoͤpfungsurkunden iſt ohne Zweifel die Onto- genie oder die Entwickelungsgeſchichte des organiſchen Jndividuums (Embryologie und Metamorphologie). Dieſe wiederholt uns kurz in
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Unvollkommenheit der palaͤontologiſchen Schoͤpfungsurkunde.
logie beſitzen. Wie es durch dieſe beiden uralten Jnſchriften moͤglich
wurde, die Geſchichte des alten Egyptens außerordentlich zu erweitern,
und die ganze Hieroglyphenſchrift zu entziffern, ſo genuͤgen uns in
vielen Faͤllen einzelne Knochen eines Thieres oder unvollſtaͤndige Ab-
druͤcke einer niederen Thier- oder Pflanzenform, um die wichtig-
ſten Anhaltspunkte fuͤr die Geſchichte einer ganzen Gruppe und die
Erkenntniß ihres Stammbaums zu gewinnen.
Von der Unvollkommenheit des geologiſchen Schoͤpfungsberichtes
ſagt Darwin, in Uebereinſtimmung mit Lyell, dem groͤßten aller
jetzt lebenden Geologen: „Der natuͤrliche Schoͤpfungsbericht, wie ihn
die Palaͤontologie liefert, iſt eine Geſchichte der Erde, unvollſtaͤndig
erhalten und in wechſelnden Dialecten geſchrieben, wovon aber nur
der letzte, bloß auf einige Theile der Erdoberflaͤche ſich beziehende
Band bis auf uns gekommen iſt. Doch auch von dieſem Bande iſt
nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten, und von jeder Seite ſind
nur da und dort einige Zeilen uͤbrig. Jedes Wort der langſam
wechſelnden Sprache dieſer Beſchreibung, mehr oder weniger ver-
ſchieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abſchnitte,
mag den anſcheinend ploͤtzlich wechſelnden Lebensformen entſprechen,
welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unſerer
weit von einander getrennten Formationen begraben liegen.“
Wenn Sie dieſe außerordentliche Unvollſtaͤndigkeit der palaͤon-
tologiſchen Urkunde ſich beſtaͤndig vor Augen halten, ſo wird es
Jhnen nicht wunderbar erſcheinen, daß wir noch auf ſo viele unſichere
Hypotheſen angewieſen ſind, wenn wir wirklich den Stammbaum
der verſchiedenen organiſchen Gruppen entwerfen wollen. Jedoch
beſitzen wir gluͤcklicher Weiſe außer den Verſteinerungen auch noch
andere Urkunden fuͤr die Stammesgeſchichte der Organismen, welche
in vielen Faͤllen von nicht geringerem und in manchen ſogar von viel
hoͤherem Werthe ſind als die Petrefacten. Die bei weitem wichtigſte
von dieſen anderen Schoͤpfungsurkunden iſt ohne Zweifel die Onto-
genie oder die Entwickelungsgeſchichte des organiſchen Jndividuums
(Embryologie und Metamorphologie). Dieſe wiederholt uns kurz in
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/338>, abgerufen am 27.11.2024.
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