sondern auch von ihrer Blutsverwandtschaft mit den Reptilien wesent- lich erweitert. Ebenso sind unsere Kenntnisse von anderen Thier- gruppen oft durch die zufällige Entdeckung einer einzigen Versteine- rung wesentlich umgestaltet worden. Da wir aber wirklich von sehr vielen wichtigen Petrefacten nur sehr wenige Exemplare oder nur Bruchstücke kennen, so muß auch aus diesem Grunde die paläontolo- gische Urkunde höchst unvollständig sein.
Eine weitere und sehr empfindliche Lücke derselben ist durch den Umstand bedingt, daß die Zwischenformen, welche die verschiede- nen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten sind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieselben nach dem Princip der Divergenz des Charakters im Kampfe um's Dasein ungünstiger gestellt waren, als die am meisten divergirenden Varietäten, die sich aus einer und derselben Stammform entwickelten. Die Zwischenglieder sind im Ganzen immer rasch ausgestorben und haben sich nur selten vollstän- dig erhalten. Die am stärksten divergirenden Formen dagegen konn- ten sich längere Zeit hindurch als selbstständige Arten am Leben er- halten, sich in zahlreichen Jndividuen ausbreiten und demnach auch leichter versteinert werden. Dadurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß nicht in vielen Fällen auch die verbindenden Zwischenformen der Arten sich so vollständig versteinert erhielten, daß sie noch gegenwär- tig die systematischen Paläontologen in die größte Verlegenheit ver- setzen und endlose Streitigkeiten über die Grenzen der Arten her- vorrufen.
Wenn Sie die hier angeführten Verhältnisse erwägen, deren Reihe sich leicht noch vermehren ließe, so werden Sie sich nicht darüber wundern, daß der natürliche Schöpfungsbericht oder die Schöpfungs- urkunde, wie sie durch die Versteinerungen gebildet wird, ganz außer- ordentlich lückenhaft und unvollständig ist. Aber dennoch haben die wirklich gefundenen Versteinerungen den größten Werth. Jhre Bedeu- tung für die natürliche Schöpfungsgeschichte ist nicht geringer als die Bedeutung, welche die berühmte Jnschrift von Rosette und das Decret von Kanopus für die Völkergeschichte, für die Archäologie und Philo-
Urſache des Mangels foſſiler Zwiſchenformen.
ſondern auch von ihrer Blutsverwandtſchaft mit den Reptilien weſent- lich erweitert. Ebenſo ſind unſere Kenntniſſe von anderen Thier- gruppen oft durch die zufaͤllige Entdeckung einer einzigen Verſteine- rung weſentlich umgeſtaltet worden. Da wir aber wirklich von ſehr vielen wichtigen Petrefacten nur ſehr wenige Exemplare oder nur Bruchſtuͤcke kennen, ſo muß auch aus dieſem Grunde die palaͤontolo- giſche Urkunde hoͤchſt unvollſtaͤndig ſein.
Eine weitere und ſehr empfindliche Luͤcke derſelben iſt durch den Umſtand bedingt, daß die Zwiſchenformen, welche die verſchiede- nen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten ſind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieſelben nach dem Princip der Divergenz des Charakters im Kampfe um’s Daſein unguͤnſtiger geſtellt waren, als die am meiſten divergirenden Varietaͤten, die ſich aus einer und derſelben Stammform entwickelten. Die Zwiſchenglieder ſind im Ganzen immer raſch ausgeſtorben und haben ſich nur ſelten vollſtaͤn- dig erhalten. Die am ſtaͤrkſten divergirenden Formen dagegen konn- ten ſich laͤngere Zeit hindurch als ſelbſtſtaͤndige Arten am Leben er- halten, ſich in zahlreichen Jndividuen ausbreiten und demnach auch leichter verſteinert werden. Dadurch iſt jedoch nicht ausgeſchloſſen, daß nicht in vielen Faͤllen auch die verbindenden Zwiſchenformen der Arten ſich ſo vollſtaͤndig verſteinert erhielten, daß ſie noch gegenwaͤr- tig die ſyſtematiſchen Palaͤontologen in die groͤßte Verlegenheit ver- ſetzen und endloſe Streitigkeiten uͤber die Grenzen der Arten her- vorrufen.
Wenn Sie die hier angefuͤhrten Verhaͤltniſſe erwaͤgen, deren Reihe ſich leicht noch vermehren ließe, ſo werden Sie ſich nicht daruͤber wundern, daß der natuͤrliche Schoͤpfungsbericht oder die Schoͤpfungs- urkunde, wie ſie durch die Verſteinerungen gebildet wird, ganz außer- ordentlich luͤckenhaft und unvollſtaͤndig iſt. Aber dennoch haben die wirklich gefundenen Verſteinerungen den groͤßten Werth. Jhre Bedeu- tung fuͤr die natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte iſt nicht geringer als die Bedeutung, welche die beruͤhmte Jnſchrift von Roſette und das Decret von Kanopus fuͤr die Voͤlkergeſchichte, fuͤr die Archaͤologie und Philo-
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Urſache des Mangels foſſiler Zwiſchenformen.
ſondern auch von ihrer Blutsverwandtſchaft mit den Reptilien weſent-
lich erweitert. Ebenſo ſind unſere Kenntniſſe von anderen Thier-
gruppen oft durch die zufaͤllige Entdeckung einer einzigen Verſteine-
rung weſentlich umgeſtaltet worden. Da wir aber wirklich von ſehr
vielen wichtigen Petrefacten nur ſehr wenige Exemplare oder nur
Bruchſtuͤcke kennen, ſo muß auch aus dieſem Grunde die palaͤontolo-
giſche Urkunde hoͤchſt unvollſtaͤndig ſein.
Eine weitere und ſehr empfindliche Luͤcke derſelben iſt durch den
Umſtand bedingt, daß die Zwiſchenformen, welche die verſchiede-
nen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten ſind, und zwar aus
dem einfachen Grunde, weil dieſelben nach dem Princip der Divergenz
des Charakters im Kampfe um’s Daſein unguͤnſtiger geſtellt waren,
als die am meiſten divergirenden Varietaͤten, die ſich aus einer und
derſelben Stammform entwickelten. Die Zwiſchenglieder ſind im
Ganzen immer raſch ausgeſtorben und haben ſich nur ſelten vollſtaͤn-
dig erhalten. Die am ſtaͤrkſten divergirenden Formen dagegen konn-
ten ſich laͤngere Zeit hindurch als ſelbſtſtaͤndige Arten am Leben er-
halten, ſich in zahlreichen Jndividuen ausbreiten und demnach auch
leichter verſteinert werden. Dadurch iſt jedoch nicht ausgeſchloſſen,
daß nicht in vielen Faͤllen auch die verbindenden Zwiſchenformen der
Arten ſich ſo vollſtaͤndig verſteinert erhielten, daß ſie noch gegenwaͤr-
tig die ſyſtematiſchen Palaͤontologen in die groͤßte Verlegenheit ver-
ſetzen und endloſe Streitigkeiten uͤber die Grenzen der Arten her-
vorrufen.
Wenn Sie die hier angefuͤhrten Verhaͤltniſſe erwaͤgen, deren
Reihe ſich leicht noch vermehren ließe, ſo werden Sie ſich nicht daruͤber
wundern, daß der natuͤrliche Schoͤpfungsbericht oder die Schoͤpfungs-
urkunde, wie ſie durch die Verſteinerungen gebildet wird, ganz außer-
ordentlich luͤckenhaft und unvollſtaͤndig iſt. Aber dennoch haben die
wirklich gefundenen Verſteinerungen den groͤßten Werth. Jhre Bedeu-
tung fuͤr die natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte iſt nicht geringer als die
Bedeutung, welche die beruͤhmte Jnſchrift von Roſette und das Decret
von Kanopus fuͤr die Voͤlkergeſchichte, fuͤr die Archaͤologie und Philo-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/337>, abgerufen am 27.11.2024.
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