der ungeheuer langen Primär- und Secundärzeit lebten tropische Pflan- zen, welche einen sehr hohen Temperaturgrad bedürfen, nicht allein in der heutigen heißen Zone unter dem Aequator, sondern auch in der heutigen gemäßigten und kalten Zone. Auch viele andere Erscheinun- gen haben eine allmähliche Abnahme der Temperatur des Erdkörpers im Ganzen, und insbesondere eine erst spät eingetretene Abkühlung der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. Jn seinen ausge- zeichneten "Untersuchungen über die Entwickelungsgesetze der organi- schen Welt" hat der vortreffliche Bronn19) die zahlreichen geologi- schen und paläontologischen Beweise dafür zusammengestellt.
Auf diese Erscheinungen einerseits und auf die mathematisch-astro- nomischen Erkenntnisse vom Bau des Weltgebäudes andrerseits gründet sich nun die Theorie, daß die ganze Erde vor undenklicher Zeit, lange vor der ersten Entstehung von Organismen auf derselben, ein feuer- flüssiger Ball war. Diese Theorie aber steht wiederum in Uebereinstim- mung mit der bewunderungswürdigen Theorie von der Entstehung des Weltgebäudes und speciell unseres Planetensystems, welche auf Grund von mathematischen und astronomischen Thatsachen 1755 unser kritischer Philosoph Kant22) aufstellte, und welche später die berühm- ten Mathematiker Laplace und Herschel ausführlicher begründeten. Diese Kosmogenie oder Entwickelungstheorie des Weltalls steht noch heute in fast allgemeiner Geltung; sie ist durch keine bessere ersetzt worden, und Mathematiker, Astronomen und Geologen ersten Ranges haben dieselbe durch mannichfaltige Beweise immer fester unterstützt. Wir müssen sie daher, gleich der Lamarck-Darwin'schen Theorie, so lange annehmen, bis sie durch eine bessere ersetzt wird.
Die Kosmogenie Kant's behauptet, daß das ganze Weltall in unvordenklichen Zeiten ein gasförmiges Chaos bil- dete. Alle Materien, welche auf der Erde und anderen Weltkörpern gegenwärtig in verschiedenen Dichtigkeitszuständen, in festem, fest- flüssigem, tropfbarflüssigem und elastisch flüssigem oder gasförmigem Aggregatzustande sich gesondert finden, bildeten ursprünglich zusam- men eine einzige gleichartige, den Weltraum gleichmäßig erfüllende
Kant’s Entwickelungstheorie des Weltalls.
der ungeheuer langen Primaͤr- und Secundaͤrzeit lebten tropiſche Pflan- zen, welche einen ſehr hohen Temperaturgrad beduͤrfen, nicht allein in der heutigen heißen Zone unter dem Aequator, ſondern auch in der heutigen gemaͤßigten und kalten Zone. Auch viele andere Erſcheinun- gen haben eine allmaͤhliche Abnahme der Temperatur des Erdkoͤrpers im Ganzen, und insbeſondere eine erſt ſpaͤt eingetretene Abkuͤhlung der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. Jn ſeinen ausge- zeichneten „Unterſuchungen uͤber die Entwickelungsgeſetze der organi- ſchen Welt“ hat der vortreffliche Bronn19) die zahlreichen geologi- ſchen und palaͤontologiſchen Beweiſe dafuͤr zuſammengeſtellt.
Auf dieſe Erſcheinungen einerſeits und auf die mathematiſch-aſtro- nomiſchen Erkenntniſſe vom Bau des Weltgebaͤudes andrerſeits gruͤndet ſich nun die Theorie, daß die ganze Erde vor undenklicher Zeit, lange vor der erſten Entſtehung von Organismen auf derſelben, ein feuer- fluͤſſiger Ball war. Dieſe Theorie aber ſteht wiederum in Uebereinſtim- mung mit der bewunderungswuͤrdigen Theorie von der Entſtehung des Weltgebaͤudes und ſpeciell unſeres Planetenſyſtems, welche auf Grund von mathematiſchen und aſtronomiſchen Thatſachen 1755 unſer kritiſcher Philoſoph Kant22) aufſtellte, und welche ſpaͤter die beruͤhm- ten Mathematiker Laplace und Herſchel ausfuͤhrlicher begruͤndeten. Dieſe Kosmogenie oder Entwickelungstheorie des Weltalls ſteht noch heute in faſt allgemeiner Geltung; ſie iſt durch keine beſſere erſetzt worden, und Mathematiker, Aſtronomen und Geologen erſten Ranges haben dieſelbe durch mannichfaltige Beweiſe immer feſter unterſtuͤtzt. Wir muͤſſen ſie daher, gleich der Lamarck-Darwin’ſchen Theorie, ſo lange annehmen, bis ſie durch eine beſſere erſetzt wird.
Die Kosmogenie Kant’s behauptet, daß das ganze Weltall in unvordenklichen Zeiten ein gasfoͤrmiges Chaos bil- dete. Alle Materien, welche auf der Erde und anderen Weltkoͤrpern gegenwaͤrtig in verſchiedenen Dichtigkeitszuſtaͤnden, in feſtem, feſt- fluͤſſigem, tropfbarfluͤſſigem und elaſtiſch fluͤſſigem oder gasfoͤrmigem Aggregatzuſtande ſich geſondert finden, bildeten urſpruͤnglich zuſam- men eine einzige gleichartige, den Weltraum gleichmaͤßig erfuͤllende
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Kant’s Entwickelungstheorie des Weltalls.
der ungeheuer langen Primaͤr- und Secundaͤrzeit lebten tropiſche Pflan-
zen, welche einen ſehr hohen Temperaturgrad beduͤrfen, nicht allein
in der heutigen heißen Zone unter dem Aequator, ſondern auch in der
heutigen gemaͤßigten und kalten Zone. Auch viele andere Erſcheinun-
gen haben eine allmaͤhliche Abnahme der Temperatur des Erdkoͤrpers
im Ganzen, und insbeſondere eine erſt ſpaͤt eingetretene Abkuͤhlung
der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. Jn ſeinen ausge-
zeichneten „Unterſuchungen uͤber die Entwickelungsgeſetze der organi-
ſchen Welt“ hat der vortreffliche Bronn 19) die zahlreichen geologi-
ſchen und palaͤontologiſchen Beweiſe dafuͤr zuſammengeſtellt.
Auf dieſe Erſcheinungen einerſeits und auf die mathematiſch-aſtro-
nomiſchen Erkenntniſſe vom Bau des Weltgebaͤudes andrerſeits gruͤndet
ſich nun die Theorie, daß die ganze Erde vor undenklicher Zeit, lange
vor der erſten Entſtehung von Organismen auf derſelben, ein feuer-
fluͤſſiger Ball war. Dieſe Theorie aber ſteht wiederum in Uebereinſtim-
mung mit der bewunderungswuͤrdigen Theorie von der Entſtehung
des Weltgebaͤudes und ſpeciell unſeres Planetenſyſtems, welche auf
Grund von mathematiſchen und aſtronomiſchen Thatſachen 1755 unſer
kritiſcher Philoſoph Kant 22) aufſtellte, und welche ſpaͤter die beruͤhm-
ten Mathematiker Laplace und Herſchel ausfuͤhrlicher begruͤndeten.
Dieſe Kosmogenie oder Entwickelungstheorie des Weltalls ſteht noch
heute in faſt allgemeiner Geltung; ſie iſt durch keine beſſere erſetzt
worden, und Mathematiker, Aſtronomen und Geologen erſten Ranges
haben dieſelbe durch mannichfaltige Beweiſe immer feſter unterſtuͤtzt.
Wir muͤſſen ſie daher, gleich der Lamarck-Darwin’ſchen Theorie,
ſo lange annehmen, bis ſie durch eine beſſere erſetzt wird.
Die Kosmogenie Kant’s behauptet, daß das ganze
Weltall in unvordenklichen Zeiten ein gasfoͤrmiges Chaos bil-
dete. Alle Materien, welche auf der Erde und anderen Weltkoͤrpern
gegenwaͤrtig in verſchiedenen Dichtigkeitszuſtaͤnden, in feſtem, feſt-
fluͤſſigem, tropfbarfluͤſſigem und elaſtiſch fluͤſſigem oder gasfoͤrmigem
Aggregatzuſtande ſich geſondert finden, bildeten urſpruͤnglich zuſam-
men eine einzige gleichartige, den Weltraum gleichmaͤßig erfuͤllende
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/288>, abgerufen am 04.07.2024.
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