Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Rudimentäre oder verkümmerte Flügel vieler Jnsecten. secten vorzugsweise dort ohne Flügel, wo das Fliegen ihnen nutzlosoder sogar entschieden schädlich sein würde. Wenn z. B. Jnsecten, welche Jnseln bewohnen, viel und gut fliegen, so kann es leicht vor- kommen, daß sie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht werden, und wenn (wie es immer der Fall ist) das Flugvermögen individuell verschieden entwickelt ist, so haben die schlechtfliegenden Jn- dividuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; sie werden weniger leicht in das Meer geweht, und bleiben länger am Leben als die gutfliegen- den Jndividuen derselben Art. Jm Verlaufe vieler Generationen muß durch die Wirksamkeit der natürlichen Züchtung dieser Umstand noth- wendig zu einer vollständigen Verkümmerung der Flügel führen. Wenn man sich diesen Schluß rein theoretisch entwickelt hätte, so könnte man nur befriedigt sein, thatsächlich denselben bewahrheitet zu finden. Jn der That ist auf isolirt gelegenen Jnseln das Verhältniß der flügello- sen Jnsecten zu den mit Flügeln versehenen ganz auffallend groß, viel größer als bei den Jnsecten des Festlandes. So sind z. B. nach Wol- laston von den 550 Käferarten, welche die Jnsel Madeira bewoh- nen, 200 flügellos oder mit so unvollkommenen Flügeln versehen, daß sie nicht mehr fliegen können; und von 29 Gattungen, welche jener Jnsel ausschließlich eigenthümlich sind, enthalten nicht weniger als 23 nur solche Arten. Offenbar ist dieser merkwürdige Umstand nicht durch die besondere Weisheit des Schöpfers zu erklären, sondern durch die natürliche Züchtung, indem hier der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die Abgewöhnung des Fliegens im Kampf mit den gefährlichen Win- den, den fauleren Käfern einen großen Vortheil im Kampf um's Da- sein gewährte. Bei anderen flügellosen Jnsecten war der Flügelman- gel aus anderen Gründen vortheilhaft. An sich betrachtet ist der Ver- lust der Flügel ein Rückschritt; aber für den Organismus unter diesen besonderen Lebensverhältnissen ist er ein Fortschritt, ein Vortheil im Kampf um's Dasein. Von anderen rudimentären Organen will ich hier noch beispiels- Rudimentaͤre oder verkuͤmmerte Fluͤgel vieler Jnſecten. ſecten vorzugsweiſe dort ohne Fluͤgel, wo das Fliegen ihnen nutzlosoder ſogar entſchieden ſchaͤdlich ſein wuͤrde. Wenn z. B. Jnſecten, welche Jnſeln bewohnen, viel und gut fliegen, ſo kann es leicht vor- kommen, daß ſie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht werden, und wenn (wie es immer der Fall iſt) das Flugvermoͤgen individuell verſchieden entwickelt iſt, ſo haben die ſchlechtfliegenden Jn- dividuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; ſie werden weniger leicht in das Meer geweht, und bleiben laͤnger am Leben als die gutfliegen- den Jndividuen derſelben Art. Jm Verlaufe vieler Generationen muß durch die Wirkſamkeit der natuͤrlichen Zuͤchtung dieſer Umſtand noth- wendig zu einer vollſtaͤndigen Verkuͤmmerung der Fluͤgel fuͤhren. Wenn man ſich dieſen Schluß rein theoretiſch entwickelt haͤtte, ſo koͤnnte man nur befriedigt ſein, thatſaͤchlich denſelben bewahrheitet zu finden. Jn der That iſt auf iſolirt gelegenen Jnſeln das Verhaͤltniß der fluͤgello- ſen Jnſecten zu den mit Fluͤgeln verſehenen ganz auffallend groß, viel groͤßer als bei den Jnſecten des Feſtlandes. So ſind z. B. nach Wol- laſton von den 550 Kaͤferarten, welche die Jnſel Madeira bewoh- nen, 200 fluͤgellos oder mit ſo unvollkommenen Fluͤgeln verſehen, daß ſie nicht mehr fliegen koͤnnen; und von 29 Gattungen, welche jener Jnſel ausſchließlich eigenthuͤmlich ſind, enthalten nicht weniger als 23 nur ſolche Arten. Offenbar iſt dieſer merkwuͤrdige Umſtand nicht durch die beſondere Weisheit des Schoͤpfers zu erklaͤren, ſondern durch die natuͤrliche Zuͤchtung, indem hier der erbliche Nichtgebrauch der Fluͤgel, die Abgewoͤhnung des Fliegens im Kampf mit den gefaͤhrlichen Win- den, den fauleren Kaͤfern einen großen Vortheil im Kampf um’s Da- ſein gewaͤhrte. Bei anderen fluͤgelloſen Jnſecten war der Fluͤgelman- gel aus anderen Gruͤnden vortheilhaft. An ſich betrachtet iſt der Ver- luſt der Fluͤgel ein Ruͤckſchritt; aber fuͤr den Organismus unter dieſen beſonderen Lebensverhaͤltniſſen iſt er ein Fortſchritt, ein Vortheil im Kampf um’s Daſein. Von anderen rudimentaͤren Organen will ich hier noch beiſpiels- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0255" n="234"/><fw place="top" type="header">Rudimentaͤre oder verkuͤmmerte Fluͤgel vieler Jnſecten.</fw><lb/> ſecten vorzugsweiſe dort ohne Fluͤgel, wo das Fliegen ihnen nutzlos<lb/> oder ſogar entſchieden ſchaͤdlich ſein wuͤrde. Wenn z. B. 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Rudimentaͤre oder verkuͤmmerte Fluͤgel vieler Jnſecten.
ſecten vorzugsweiſe dort ohne Fluͤgel, wo das Fliegen ihnen nutzlos
oder ſogar entſchieden ſchaͤdlich ſein wuͤrde. Wenn z. B. Jnſecten,
welche Jnſeln bewohnen, viel und gut fliegen, ſo kann es leicht vor-
kommen, daß ſie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht
werden, und wenn (wie es immer der Fall iſt) das Flugvermoͤgen
individuell verſchieden entwickelt iſt, ſo haben die ſchlechtfliegenden Jn-
dividuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; ſie werden weniger leicht
in das Meer geweht, und bleiben laͤnger am Leben als die gutfliegen-
den Jndividuen derſelben Art. Jm Verlaufe vieler Generationen muß
durch die Wirkſamkeit der natuͤrlichen Zuͤchtung dieſer Umſtand noth-
wendig zu einer vollſtaͤndigen Verkuͤmmerung der Fluͤgel fuͤhren. Wenn
man ſich dieſen Schluß rein theoretiſch entwickelt haͤtte, ſo koͤnnte man
nur befriedigt ſein, thatſaͤchlich denſelben bewahrheitet zu finden. Jn
der That iſt auf iſolirt gelegenen Jnſeln das Verhaͤltniß der fluͤgello-
ſen Jnſecten zu den mit Fluͤgeln verſehenen ganz auffallend groß, viel
groͤßer als bei den Jnſecten des Feſtlandes. So ſind z. B. nach Wol-
laſton von den 550 Kaͤferarten, welche die Jnſel Madeira bewoh-
nen, 200 fluͤgellos oder mit ſo unvollkommenen Fluͤgeln verſehen, daß
ſie nicht mehr fliegen koͤnnen; und von 29 Gattungen, welche jener
Jnſel ausſchließlich eigenthuͤmlich ſind, enthalten nicht weniger als 23
nur ſolche Arten. Offenbar iſt dieſer merkwuͤrdige Umſtand nicht durch
die beſondere Weisheit des Schoͤpfers zu erklaͤren, ſondern durch die
natuͤrliche Zuͤchtung, indem hier der erbliche Nichtgebrauch der Fluͤgel,
die Abgewoͤhnung des Fliegens im Kampf mit den gefaͤhrlichen Win-
den, den fauleren Kaͤfern einen großen Vortheil im Kampf um’s Da-
ſein gewaͤhrte. Bei anderen fluͤgelloſen Jnſecten war der Fluͤgelman-
gel aus anderen Gruͤnden vortheilhaft. An ſich betrachtet iſt der Ver-
luſt der Fluͤgel ein Ruͤckſchritt; aber fuͤr den Organismus unter dieſen
beſonderen Lebensverhaͤltniſſen iſt er ein Fortſchritt, ein Vortheil im
Kampf um’s Daſein.
Von anderen rudimentaͤren Organen will ich hier noch beiſpiels-
weiſe die Lungen der Schlangen und der ſchlangenartigen Eidechſen
erwaͤhnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen beſitzen, Amphibien,
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