her kein Lichtstrahl in sie hineinfällt (vergl. oben S. 11). Bei den Vorfahren dieser Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl entwickelt, von der durchsichtigen Hornhaut überzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als sie sich nach und nach an unterirdische Lebensweise gewöhnten, sich dem Tageslicht entzogen und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieselben rückgebildet.
Sehr anschauliche Beispiele von rudimentären Organen sind fer- ner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, z. B. unter den Vögeln die Flügel der straußartigen Laufvögel, (Strauß, Ca- suar u. s. w.), bei welchen sich die Beine außerordentlich entwickelt ha- ben. Diese Vögel haben sich das Fliegen abgewöhnt und haben da- durch den Gebrauch der Flügel verloren; allein die Flügel sind noch da, obwohl in verkümmerter Form. Sehr häufig finden Sie solche verkümmerte Flügel in der Klasse der Jnsecten, von denen die meisten fliegen können. Aus vergleichend anatomischen und anderen Grün- den können wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt leben- den Jnsecten (alle Netzflügler, Heuschrecken, Käfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. s. w.) von einer einzigen gemeinsamen El- ternform, einem Stamminsect abstammen, welches zwei entwickelte Flügelpaare und drei Beinpaare besaß. Nun giebt es aber sehr zahl- reiche Jnsecten, bei denen entweder eines oder beide Flügelpaare mehr oder minder rückgebildet, und viele, bei denen sie sogar völlig ver- schwunden sind. Jn der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren z. B. ist das hintere Flügelpaar, bei den Drehflüglern oder Strepsipte- ren dagegen das vordere Flügelpaar verkümmert oder ganz verschwun- den. Außerdem finden Sie in jeder Jnsectenordnung einzelne Gat- tungen oder Arten, bei denen die Flügel mehr oder minder rückgebil- det oder verschwunden sind. Jnsbesondere ist letzteres bei Parasiten der Fall. Oft sind die Weibchen flügellos, während die Männchen geflügelt sind, z. B. bei den Leuchtkäfern oder Johanniskäfern (Lam- pyris), bei den Strepsipteren u. s. w. Offenbar ist diese theilweise oder gänzliche Rückbildung der Jnsectenflügel durch natürliche Züch- tung im Kampf um's Dasein entstanden. Denn wir finden die Jn-
Rudimentaͤre Fluͤgel vieler Voͤgel und Jnſecten.
her kein Lichtſtrahl in ſie hineinfaͤllt (vergl. oben S. 11). Bei den Vorfahren dieſer Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl entwickelt, von der durchſichtigen Hornhaut uͤberzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als ſie ſich nach und nach an unterirdiſche Lebensweiſe gewoͤhnten, ſich dem Tageslicht entzogen und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieſelben ruͤckgebildet.
Sehr anſchauliche Beiſpiele von rudimentaͤren Organen ſind fer- ner die Fluͤgel von Thieren, welche nicht fliegen koͤnnen, z. B. unter den Voͤgeln die Fluͤgel der ſtraußartigen Laufvoͤgel, (Strauß, Ca- ſuar u. ſ. w.), bei welchen ſich die Beine außerordentlich entwickelt ha- ben. Dieſe Voͤgel haben ſich das Fliegen abgewoͤhnt und haben da- durch den Gebrauch der Fluͤgel verloren; allein die Fluͤgel ſind noch da, obwohl in verkuͤmmerter Form. Sehr haͤufig finden Sie ſolche verkuͤmmerte Fluͤgel in der Klaſſe der Jnſecten, von denen die meiſten fliegen koͤnnen. Aus vergleichend anatomiſchen und anderen Gruͤn- den koͤnnen wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt leben- den Jnſecten (alle Netzfluͤgler, Heuſchrecken, Kaͤfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. ſ. w.) von einer einzigen gemeinſamen El- ternform, einem Stamminſect abſtammen, welches zwei entwickelte Fluͤgelpaare und drei Beinpaare beſaß. Nun giebt es aber ſehr zahl- reiche Jnſecten, bei denen entweder eines oder beide Fluͤgelpaare mehr oder minder ruͤckgebildet, und viele, bei denen ſie ſogar voͤllig ver- ſchwunden ſind. Jn der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren z. B. iſt das hintere Fluͤgelpaar, bei den Drehfluͤglern oder Strepſipte- ren dagegen das vordere Fluͤgelpaar verkuͤmmert oder ganz verſchwun- den. Außerdem finden Sie in jeder Jnſectenordnung einzelne Gat- tungen oder Arten, bei denen die Fluͤgel mehr oder minder ruͤckgebil- det oder verſchwunden ſind. Jnsbeſondere iſt letzteres bei Paraſiten der Fall. Oft ſind die Weibchen fluͤgellos, waͤhrend die Maͤnnchen gefluͤgelt ſind, z. B. bei den Leuchtkaͤfern oder Johanniskaͤfern (Lam- pyris), bei den Strepſipteren u. ſ. w. Offenbar iſt dieſe theilweiſe oder gaͤnzliche Ruͤckbildung der Jnſectenfluͤgel durch natuͤrliche Zuͤch- tung im Kampf um’s Daſein entſtanden. Denn wir finden die Jn-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0254"n="233"/><fwplace="top"type="header">Rudimentaͤre Fluͤgel vieler Voͤgel und Jnſecten.</fw><lb/>
her kein Lichtſtrahl in ſie hineinfaͤllt (vergl. oben S. 11). Bei den<lb/>
Vorfahren dieſer Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die<lb/>
Augen wohl entwickelt, von der durchſichtigen Hornhaut uͤberzogen<lb/>
und dienten wirklich zum Sehen. Aber als ſie ſich nach und nach an<lb/>
unterirdiſche Lebensweiſe gewoͤhnten, ſich dem Tageslicht entzogen<lb/>
und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieſelben ruͤckgebildet.</p><lb/><p>Sehr anſchauliche Beiſpiele von rudimentaͤren Organen ſind fer-<lb/>
ner die Fluͤgel von Thieren, welche nicht fliegen koͤnnen, z. B. unter<lb/>
den Voͤgeln die Fluͤgel der ſtraußartigen Laufvoͤgel, (Strauß, Ca-<lb/>ſuar u. ſ. w.), bei welchen ſich die Beine außerordentlich entwickelt ha-<lb/>
ben. Dieſe Voͤgel haben ſich das Fliegen abgewoͤhnt und haben da-<lb/>
durch den Gebrauch der Fluͤgel verloren; allein die Fluͤgel ſind noch<lb/>
da, obwohl in verkuͤmmerter Form. Sehr haͤufig finden Sie ſolche<lb/>
verkuͤmmerte Fluͤgel in der Klaſſe der Jnſecten, von denen die meiſten<lb/>
fliegen koͤnnen. Aus vergleichend anatomiſchen und anderen Gruͤn-<lb/>
den koͤnnen wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt leben-<lb/>
den Jnſecten (alle Netzfluͤgler, Heuſchrecken, Kaͤfer, Bienen, Wanzen,<lb/>
Fliegen, Schmetterlinge u. ſ. w.) von einer einzigen gemeinſamen El-<lb/>
ternform, einem Stamminſect abſtammen, welches zwei entwickelte<lb/>
Fluͤgelpaare und drei Beinpaare beſaß. Nun giebt es aber ſehr zahl-<lb/>
reiche Jnſecten, bei denen entweder eines oder beide Fluͤgelpaare mehr<lb/>
oder minder ruͤckgebildet, und viele, bei denen ſie ſogar voͤllig ver-<lb/>ſchwunden ſind. Jn der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren<lb/>
z. B. iſt das hintere Fluͤgelpaar, bei den Drehfluͤglern oder Strepſipte-<lb/>
ren dagegen das vordere Fluͤgelpaar verkuͤmmert oder ganz verſchwun-<lb/>
den. Außerdem finden Sie in jeder Jnſectenordnung einzelne Gat-<lb/>
tungen oder Arten, bei denen die Fluͤgel mehr oder minder ruͤckgebil-<lb/>
det oder verſchwunden ſind. Jnsbeſondere iſt letzteres bei Paraſiten<lb/>
der Fall. Oft ſind die Weibchen fluͤgellos, waͤhrend die Maͤnnchen<lb/>
gefluͤgelt ſind, z. B. bei den Leuchtkaͤfern oder Johanniskaͤfern <hirendition="#aq"><hirendition="#g">(Lam-<lb/>
pyris),</hi></hi> bei den Strepſipteren u. ſ. w. Offenbar iſt dieſe theilweiſe<lb/>
oder gaͤnzliche Ruͤckbildung der Jnſectenfluͤgel durch natuͤrliche Zuͤch-<lb/>
tung im Kampf um’s Daſein entſtanden. Denn wir finden die Jn-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[233/0254]
Rudimentaͤre Fluͤgel vieler Voͤgel und Jnſecten.
her kein Lichtſtrahl in ſie hineinfaͤllt (vergl. oben S. 11). Bei den
Vorfahren dieſer Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die
Augen wohl entwickelt, von der durchſichtigen Hornhaut uͤberzogen
und dienten wirklich zum Sehen. Aber als ſie ſich nach und nach an
unterirdiſche Lebensweiſe gewoͤhnten, ſich dem Tageslicht entzogen
und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieſelben ruͤckgebildet.
Sehr anſchauliche Beiſpiele von rudimentaͤren Organen ſind fer-
ner die Fluͤgel von Thieren, welche nicht fliegen koͤnnen, z. B. unter
den Voͤgeln die Fluͤgel der ſtraußartigen Laufvoͤgel, (Strauß, Ca-
ſuar u. ſ. w.), bei welchen ſich die Beine außerordentlich entwickelt ha-
ben. Dieſe Voͤgel haben ſich das Fliegen abgewoͤhnt und haben da-
durch den Gebrauch der Fluͤgel verloren; allein die Fluͤgel ſind noch
da, obwohl in verkuͤmmerter Form. Sehr haͤufig finden Sie ſolche
verkuͤmmerte Fluͤgel in der Klaſſe der Jnſecten, von denen die meiſten
fliegen koͤnnen. Aus vergleichend anatomiſchen und anderen Gruͤn-
den koͤnnen wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt leben-
den Jnſecten (alle Netzfluͤgler, Heuſchrecken, Kaͤfer, Bienen, Wanzen,
Fliegen, Schmetterlinge u. ſ. w.) von einer einzigen gemeinſamen El-
ternform, einem Stamminſect abſtammen, welches zwei entwickelte
Fluͤgelpaare und drei Beinpaare beſaß. Nun giebt es aber ſehr zahl-
reiche Jnſecten, bei denen entweder eines oder beide Fluͤgelpaare mehr
oder minder ruͤckgebildet, und viele, bei denen ſie ſogar voͤllig ver-
ſchwunden ſind. Jn der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren
z. B. iſt das hintere Fluͤgelpaar, bei den Drehfluͤglern oder Strepſipte-
ren dagegen das vordere Fluͤgelpaar verkuͤmmert oder ganz verſchwun-
den. Außerdem finden Sie in jeder Jnſectenordnung einzelne Gat-
tungen oder Arten, bei denen die Fluͤgel mehr oder minder ruͤckgebil-
det oder verſchwunden ſind. Jnsbeſondere iſt letzteres bei Paraſiten
der Fall. Oft ſind die Weibchen fluͤgellos, waͤhrend die Maͤnnchen
gefluͤgelt ſind, z. B. bei den Leuchtkaͤfern oder Johanniskaͤfern (Lam-
pyris), bei den Strepſipteren u. ſ. w. Offenbar iſt dieſe theilweiſe
oder gaͤnzliche Ruͤckbildung der Jnſectenfluͤgel durch natuͤrliche Zuͤch-
tung im Kampf um’s Daſein entſtanden. Denn wir finden die Jn-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/254>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.