Reptilien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Da aber, wo der Körper sich außerordentlich verdünnt und in die Länge streckt, wie bei den Schlangen und schlangenartigen Eidechsen, hat die eine Lunge neben der anderen nicht mehr Platz, und es ist für den Mechanismus der Athmung ein offen- barer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt ist. Eine einzige große Lunge leistet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei diesen Thieren fast durchgängig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere ist ganz verkümmert, obwohl als unnützes Rudiment vorhanden. Ebenso ist bei allen Vögeln der rechte Eierstock verkümmert und ohne Function; der linke Eierstock allein ist entwickelt und liefert alle Eier.
Daß auch der Mensch solche ganz unnütze und überflüssige rudi- mentäre Organe besitzt, habe ich bereits im ersten Vortrage erwähnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als solche an- geführt. Außerdem gehört hierher das Rudiment des Schwanzes, welches der Mensch in seinen 3--5 Schwanzwirbeln besitzt, und wel- ches beim menschlichen Embryo während der beiden ersten Monate der Entwickelung noch frei hervorsteht (Vgl. S. 240 b, c, Fig. Bs und Ds). Späterhin verwächst es vollständig. Dieses verkümmerte Schwänzchen des Menschen ist ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare That- sache, daß er von geschwänzten Voreltern abstammt. Beim Weibe ist das Schwänzchen gewöhnlich um einen Wirbel länger, als beim Manne. Auch rudimentäre Muskeln sind am Schwanze des Men- schen noch vorhanden, welche denselben vormals bewegten.
Ein anderes rudimentäres Organ des Menschen, welches aber bloß dem Manne zukommt, und welches ebenso bei sämmtlichen männ- lichen Säugethieren sich findet, sind die Milchdrüsen an der Brust, welche in der Regel bloß beim weiblichen Geschlechte in Thätigkeit tre- ten. Jndessen kennt man von verschiedenen Säugethieren, nament- lich vom Menschen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle, in denen die Milchdrüsen auch beim männlichen Geschlechte wohl ent- wickelt waren und Milch zur Ernährung des Jungen lieferten. Daß
Rudimentaͤre Organe des Menſchen.
Reptilien, Voͤgel und Saͤugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Da aber, wo der Koͤrper ſich außerordentlich verduͤnnt und in die Laͤnge ſtreckt, wie bei den Schlangen und ſchlangenartigen Eidechſen, hat die eine Lunge neben der anderen nicht mehr Platz, und es iſt fuͤr den Mechanismus der Athmung ein offen- barer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt iſt. Eine einzige große Lunge leiſtet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei dieſen Thieren faſt durchgaͤngig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere iſt ganz verkuͤmmert, obwohl als unnuͤtzes Rudiment vorhanden. Ebenſo iſt bei allen Voͤgeln der rechte Eierſtock verkuͤmmert und ohne Function; der linke Eierſtock allein iſt entwickelt und liefert alle Eier.
Daß auch der Menſch ſolche ganz unnuͤtze und uͤberfluͤſſige rudi- mentaͤre Organe beſitzt, habe ich bereits im erſten Vortrage erwaͤhnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als ſolche an- gefuͤhrt. Außerdem gehoͤrt hierher das Rudiment des Schwanzes, welches der Menſch in ſeinen 3—5 Schwanzwirbeln beſitzt, und wel- ches beim menſchlichen Embryo waͤhrend der beiden erſten Monate der Entwickelung noch frei hervorſteht (Vgl. S. 240 b, c, Fig. Bs und Ds). Spaͤterhin verwaͤchſt es vollſtaͤndig. Dieſes verkuͤmmerte Schwaͤnzchen des Menſchen iſt ein unwiderleglicher Zeuge fuͤr die unleugbare That- ſache, daß er von geſchwaͤnzten Voreltern abſtammt. Beim Weibe iſt das Schwaͤnzchen gewoͤhnlich um einen Wirbel laͤnger, als beim Manne. Auch rudimentaͤre Muskeln ſind am Schwanze des Men- ſchen noch vorhanden, welche denſelben vormals bewegten.
Ein anderes rudimentaͤres Organ des Menſchen, welches aber bloß dem Manne zukommt, und welches ebenſo bei ſaͤmmtlichen maͤnn- lichen Saͤugethieren ſich findet, ſind die Milchdruͤſen an der Bruſt, welche in der Regel bloß beim weiblichen Geſchlechte in Thaͤtigkeit tre- ten. Jndeſſen kennt man von verſchiedenen Saͤugethieren, nament- lich vom Menſchen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Faͤlle, in denen die Milchdruͤſen auch beim maͤnnlichen Geſchlechte wohl ent- wickelt waren und Milch zur Ernaͤhrung des Jungen lieferten. Daß
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Rudimentaͤre Organe des Menſchen.
Reptilien, Voͤgel und Saͤugethiere, haben ein Paar Lungen, eine
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verduͤnnt und in die Laͤnge ſtreckt, wie bei den Schlangen und
ſchlangenartigen Eidechſen, hat die eine Lunge neben der anderen nicht
mehr Platz, und es iſt fuͤr den Mechanismus der Athmung ein offen-
barer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt iſt. Eine einzige große
Lunge leiſtet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher
finden wir bei dieſen Thieren faſt durchgaͤngig die rechte oder die linke
Lunge allein ausgebildet. Die andere iſt ganz verkuͤmmert, obwohl
als unnuͤtzes Rudiment vorhanden. Ebenſo iſt bei allen Voͤgeln der
rechte Eierſtock verkuͤmmert und ohne Function; der linke Eierſtock
allein iſt entwickelt und liefert alle Eier.
Daß auch der Menſch ſolche ganz unnuͤtze und uͤberfluͤſſige rudi-
mentaͤre Organe beſitzt, habe ich bereits im erſten Vortrage erwaͤhnt,
und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als ſolche an-
gefuͤhrt. Außerdem gehoͤrt hierher das Rudiment des Schwanzes,
welches der Menſch in ſeinen 3—5 Schwanzwirbeln beſitzt, und wel-
ches beim menſchlichen Embryo waͤhrend der beiden erſten Monate der
Entwickelung noch frei hervorſteht (Vgl. S. 240 b, c, Fig. Bs und Ds).
Spaͤterhin verwaͤchſt es vollſtaͤndig. Dieſes verkuͤmmerte Schwaͤnzchen
des Menſchen iſt ein unwiderleglicher Zeuge fuͤr die unleugbare That-
ſache, daß er von geſchwaͤnzten Voreltern abſtammt. Beim Weibe
iſt das Schwaͤnzchen gewoͤhnlich um einen Wirbel laͤnger, als beim
Manne. Auch rudimentaͤre Muskeln ſind am Schwanze des Men-
ſchen noch vorhanden, welche denſelben vormals bewegten.
Ein anderes rudimentaͤres Organ des Menſchen, welches aber
bloß dem Manne zukommt, und welches ebenſo bei ſaͤmmtlichen maͤnn-
lichen Saͤugethieren ſich findet, ſind die Milchdruͤſen an der Bruſt,
welche in der Regel bloß beim weiblichen Geſchlechte in Thaͤtigkeit tre-
ten. Jndeſſen kennt man von verſchiedenen Saͤugethieren, nament-
lich vom Menſchen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Faͤlle,
in denen die Milchdruͤſen auch beim maͤnnlichen Geſchlechte wohl ent-
wickelt waren und Milch zur Ernaͤhrung des Jungen lieferten. Daß
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/256>, abgerufen am 04.07.2024.
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