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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Unmöglichkeit der Unterscheidung von Art und Varietät.
zu thun haben, wurde schon früher angeführt (S. 40). Die ver-
schiedenartige praktische Verwerthung des Speciesbegriffes, wie sie
sich in der systematischen Zoologie und Botanik durchgeführt findet,
ist sehr lehrreich für die Erkenntniß der menschlichen Thorheit. Die
bei weitem überwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war
bisher bei Unterscheidung und Beschreibung der verschiedenen Thier-
und Pflanzenformen vor Allem bestrebt, die verwandten Formen als
"gute Species" scharf zu trennen. Allein eine scharfe und folgerichtige
Unterscheidung solcher "echten oder guten Arten" zeigte sich nirgends
möglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche
in allen Fällen darüber einig wären, welche von den nahe verwand-
ten Formen einer Gattung gute Arten seien und welche nicht. Alle
Autoren haben darüber verschiedene Ansichten. Bei der Gattung
Hieracium z. B., einer der gemeinsten deutschen Pflanzengattungen,
hat man über 300 Arten in Deutschland allein unterschieden. Der
Botaniker Fries läßt davon aber nur 106, Koch nur 52 als "gute
Arten" gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an. Eben so
groß sind die Differenzen bei den Brombeerarten (Rubus). Wo der
eine Botaniker über hundert Arten macht, nimmt der zweite bloß etwa
die Hälfte, ein dritter nur fünf bis sechs oder noch weniger Arten an.
Die Vögel Deutschlands kennt man seit längerer Zeit sehr genau.
Bechstein hat in seiner sorgfältigen Naturgeschichte der deutschen
Vögel 367 Arten unterschieden, L. Reichenbach 379, Meyer
und Wolff
406, und Pastor Brehm sogar mehr als 900 ver-
schiedene Arten.

Sie sehen also, daß die größte Willkür hier wie in jedem an-
deren Gebiete der zoologischen und botanischen Systematik herrscht, und
der Natur der Sache nach herrschen muß. Denn es ist ganz unmög-
lich, Varietäten, Spielarten und Rassen von den sogenannten "guten
Arten" scharf zu unterscheiden. Varietäten sind beginnende
Arten.
Aus der Variabilität oder Anpassungsfähigkeit der Arten
folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einflusse des Kampfes um's Da-
sein die immer weiter gehende Sonderung oder Differenzirung der

Unmoͤglichkeit der Unterſcheidung von Art und Varietaͤt.
zu thun haben, wurde ſchon fruͤher angefuͤhrt (S. 40). Die ver-
ſchiedenartige praktiſche Verwerthung des Speciesbegriffes, wie ſie
ſich in der ſyſtematiſchen Zoologie und Botanik durchgefuͤhrt findet,
iſt ſehr lehrreich fuͤr die Erkenntniß der menſchlichen Thorheit. Die
bei weitem uͤberwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war
bisher bei Unterſcheidung und Beſchreibung der verſchiedenen Thier-
und Pflanzenformen vor Allem beſtrebt, die verwandten Formen als
„gute Species“ ſcharf zu trennen. Allein eine ſcharfe und folgerichtige
Unterſcheidung ſolcher „echten oder guten Arten“ zeigte ſich nirgends
moͤglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche
in allen Faͤllen daruͤber einig waͤren, welche von den nahe verwand-
ten Formen einer Gattung gute Arten ſeien und welche nicht. Alle
Autoren haben daruͤber verſchiedene Anſichten. Bei der Gattung
Hieracium z. B., einer der gemeinſten deutſchen Pflanzengattungen,
hat man uͤber 300 Arten in Deutſchland allein unterſchieden. Der
Botaniker Fries laͤßt davon aber nur 106, Koch nur 52 als „gute
Arten“ gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an. Eben ſo
groß ſind die Differenzen bei den Brombeerarten (Rubus). Wo der
eine Botaniker uͤber hundert Arten macht, nimmt der zweite bloß etwa
die Haͤlfte, ein dritter nur fuͤnf bis ſechs oder noch weniger Arten an.
Die Voͤgel Deutſchlands kennt man ſeit laͤngerer Zeit ſehr genau.
Bechſtein hat in ſeiner ſorgfaͤltigen Naturgeſchichte der deutſchen
Voͤgel 367 Arten unterſchieden, L. Reichenbach 379, Meyer
und Wolff
406, und Paſtor Brehm ſogar mehr als 900 ver-
ſchiedene Arten.

Sie ſehen alſo, daß die groͤßte Willkuͤr hier wie in jedem an-
deren Gebiete der zoologiſchen und botaniſchen Syſtematik herrſcht, und
der Natur der Sache nach herrſchen muß. Denn es iſt ganz unmoͤg-
lich, Varietaͤten, Spielarten und Raſſen von den ſogenannten „guten
Arten“ ſcharf zu unterſcheiden. Varietaͤten ſind beginnende
Arten.
Aus der Variabilitaͤt oder Anpaſſungsfaͤhigkeit der Arten
folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einfluſſe des Kampfes um’s Da-
ſein die immer weiter gehende Sonderung oder Differenzirung der

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[223/0244] Unmoͤglichkeit der Unterſcheidung von Art und Varietaͤt. zu thun haben, wurde ſchon fruͤher angefuͤhrt (S. 40). Die ver- ſchiedenartige praktiſche Verwerthung des Speciesbegriffes, wie ſie ſich in der ſyſtematiſchen Zoologie und Botanik durchgefuͤhrt findet, iſt ſehr lehrreich fuͤr die Erkenntniß der menſchlichen Thorheit. Die bei weitem uͤberwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war bisher bei Unterſcheidung und Beſchreibung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen vor Allem beſtrebt, die verwandten Formen als „gute Species“ ſcharf zu trennen. Allein eine ſcharfe und folgerichtige Unterſcheidung ſolcher „echten oder guten Arten“ zeigte ſich nirgends moͤglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche in allen Faͤllen daruͤber einig waͤren, welche von den nahe verwand- ten Formen einer Gattung gute Arten ſeien und welche nicht. Alle Autoren haben daruͤber verſchiedene Anſichten. Bei der Gattung Hieracium z. B., einer der gemeinſten deutſchen Pflanzengattungen, hat man uͤber 300 Arten in Deutſchland allein unterſchieden. Der Botaniker Fries laͤßt davon aber nur 106, Koch nur 52 als „gute Arten“ gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an. Eben ſo groß ſind die Differenzen bei den Brombeerarten (Rubus). Wo der eine Botaniker uͤber hundert Arten macht, nimmt der zweite bloß etwa die Haͤlfte, ein dritter nur fuͤnf bis ſechs oder noch weniger Arten an. Die Voͤgel Deutſchlands kennt man ſeit laͤngerer Zeit ſehr genau. Bechſtein hat in ſeiner ſorgfaͤltigen Naturgeſchichte der deutſchen Voͤgel 367 Arten unterſchieden, L. Reichenbach 379, Meyer und Wolff 406, und Paſtor Brehm ſogar mehr als 900 ver- ſchiedene Arten. Sie ſehen alſo, daß die groͤßte Willkuͤr hier wie in jedem an- deren Gebiete der zoologiſchen und botaniſchen Syſtematik herrſcht, und der Natur der Sache nach herrſchen muß. Denn es iſt ganz unmoͤg- lich, Varietaͤten, Spielarten und Raſſen von den ſogenannten „guten Arten“ ſcharf zu unterſcheiden. Varietaͤten ſind beginnende Arten. Aus der Variabilitaͤt oder Anpaſſungsfaͤhigkeit der Arten folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einfluſſe des Kampfes um’s Da- ſein die immer weiter gehende Sonderung oder Differenzirung der

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/244>, abgerufen am 25.11.2024.