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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Wechselbezügliche oder correlative Anpassung.
genen Kopf. So zeichnen sich u. a. die Taubenrassen, welche die längsten
Beine haben, zugleich auch durch die längsten Schnäbel aus. Dieselbe
Wechselbeziehung zwischen der Länge der Beine und des Schnabels
zeigt sich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvögel (Grallatores),
beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. s. w. Die Wechselbeziehun-
gen, welche in dieser Weise zwischen verschiedenen Theilen des Orga-
nismus bestehen, sind äußerst merkwürdig, und im Einzelnen ihrer
Ursache nach uns unbekannt. Jm Allgemeinen können wir natürlich
sagen: die Ernährungsveränderungen, die einen einzelnen Theil be-
treffen, müssen nothwendig auf die übrigen Theile zurückwirken, weil
die Ernährung eines jeden Organismus eine zusammenhängende, cen-
tralisirte Thätigkeit ist. Allein warum nun gerade dieser oder jener
Theil in dieser merkwürdigen Wechselbeziehung zu einem andern steht,
ist uns in den meisten Fällen ganz unbekannt. Es sind eine große
Anzahl solcher Wechselbeziehungen in der Bildung bekannt, namentlich
bei den neulich schon erwähnten Abänderungen der Thiere und Pflan-
zen, die sich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos oder
Kakerlaken. Der Mangel des gewöhnlich vorhandenen Farbestoffs be-
dingt hier gewöhnlich auch gewisse Veränderungen in der Bildung
anderer Theile, z. B. des Muskelsystems, des Knochensystems, also
organischer Systeme, die zunächst gar nicht mit dem System der äu-
ßeren Haut zusammenhängen. Sehr häufig sind diese schwächer ent-
wickelt und daher der ganze Körperbau zarter und schwächer, als bei
den gefärbten Thieren derselben Art. Ebenso werden auch die Sinnes-
organe und das Nervensystem durch diesen Pigmentmangel eigenthüm-
lich afficirt. Katzen mit blauen Augen sind jederzeit taub. Die Schim-
mel zeichnen sich vor den gefärbten Pferden durch die besondere Nei-
gung zur Bildung sarkomatöser Geschwülste aus. Auch beim Menschen
ist der Grad der Pigmententwickelung in der äußeren Haut vom größ-
ten Einflusse auf die Empfänglichkeit des Organismus für gewisse
Krankheiten, so daß z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, schwarzen
Haaren und braunen Augen, sich leichter in den Tropengegenden ak-
klimatisiren, und viel weniger den dort herrschenden Krankheiten (Le-

Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung.
genen Kopf. So zeichnen ſich u. a. die Taubenraſſen, welche die laͤngſten
Beine haben, zugleich auch durch die laͤngſten Schnaͤbel aus. Dieſelbe
Wechſelbeziehung zwiſchen der Laͤnge der Beine und des Schnabels
zeigt ſich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvoͤgel (Grallatores),
beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. ſ. w. Die Wechſelbeziehun-
gen, welche in dieſer Weiſe zwiſchen verſchiedenen Theilen des Orga-
nismus beſtehen, ſind aͤußerſt merkwuͤrdig, und im Einzelnen ihrer
Urſache nach uns unbekannt. Jm Allgemeinen koͤnnen wir natuͤrlich
ſagen: die Ernaͤhrungsveraͤnderungen, die einen einzelnen Theil be-
treffen, muͤſſen nothwendig auf die uͤbrigen Theile zuruͤckwirken, weil
die Ernaͤhrung eines jeden Organismus eine zuſammenhaͤngende, cen-
traliſirte Thaͤtigkeit iſt. Allein warum nun gerade dieſer oder jener
Theil in dieſer merkwuͤrdigen Wechſelbeziehung zu einem andern ſteht,
iſt uns in den meiſten Faͤllen ganz unbekannt. Es ſind eine große
Anzahl ſolcher Wechſelbeziehungen in der Bildung bekannt, namentlich
bei den neulich ſchon erwaͤhnten Abaͤnderungen der Thiere und Pflan-
zen, die ſich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos oder
Kakerlaken. Der Mangel des gewoͤhnlich vorhandenen Farbeſtoffs be-
dingt hier gewoͤhnlich auch gewiſſe Veraͤnderungen in der Bildung
anderer Theile, z. B. des Muskelſyſtems, des Knochenſyſtems, alſo
organiſcher Syſteme, die zunaͤchſt gar nicht mit dem Syſtem der aͤu-
ßeren Haut zuſammenhaͤngen. Sehr haͤufig ſind dieſe ſchwaͤcher ent-
wickelt und daher der ganze Koͤrperbau zarter und ſchwaͤcher, als bei
den gefaͤrbten Thieren derſelben Art. Ebenſo werden auch die Sinnes-
organe und das Nervenſyſtem durch dieſen Pigmentmangel eigenthuͤm-
lich afficirt. Katzen mit blauen Augen ſind jederzeit taub. Die Schim-
mel zeichnen ſich vor den gefaͤrbten Pferden durch die beſondere Nei-
gung zur Bildung ſarkomatoͤſer Geſchwuͤlſte aus. Auch beim Menſchen
iſt der Grad der Pigmententwickelung in der aͤußeren Haut vom groͤß-
ten Einfluſſe auf die Empfaͤnglichkeit des Organismus fuͤr gewiſſe
Krankheiten, ſo daß z. B. Europaͤer mit dunkler Hautfarbe, ſchwarzen
Haaren und braunen Augen, ſich leichter in den Tropengegenden ak-
klimatiſiren, und viel weniger den dort herrſchenden Krankheiten (Le-

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[194/0215] Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung. genen Kopf. So zeichnen ſich u. a. die Taubenraſſen, welche die laͤngſten Beine haben, zugleich auch durch die laͤngſten Schnaͤbel aus. Dieſelbe Wechſelbeziehung zwiſchen der Laͤnge der Beine und des Schnabels zeigt ſich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvoͤgel (Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. ſ. w. Die Wechſelbeziehun- gen, welche in dieſer Weiſe zwiſchen verſchiedenen Theilen des Orga- nismus beſtehen, ſind aͤußerſt merkwuͤrdig, und im Einzelnen ihrer Urſache nach uns unbekannt. Jm Allgemeinen koͤnnen wir natuͤrlich ſagen: die Ernaͤhrungsveraͤnderungen, die einen einzelnen Theil be- treffen, muͤſſen nothwendig auf die uͤbrigen Theile zuruͤckwirken, weil die Ernaͤhrung eines jeden Organismus eine zuſammenhaͤngende, cen- traliſirte Thaͤtigkeit iſt. Allein warum nun gerade dieſer oder jener Theil in dieſer merkwuͤrdigen Wechſelbeziehung zu einem andern ſteht, iſt uns in den meiſten Faͤllen ganz unbekannt. Es ſind eine große Anzahl ſolcher Wechſelbeziehungen in der Bildung bekannt, namentlich bei den neulich ſchon erwaͤhnten Abaͤnderungen der Thiere und Pflan- zen, die ſich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos oder Kakerlaken. Der Mangel des gewoͤhnlich vorhandenen Farbeſtoffs be- dingt hier gewoͤhnlich auch gewiſſe Veraͤnderungen in der Bildung anderer Theile, z. B. des Muskelſyſtems, des Knochenſyſtems, alſo organiſcher Syſteme, die zunaͤchſt gar nicht mit dem Syſtem der aͤu- ßeren Haut zuſammenhaͤngen. Sehr haͤufig ſind dieſe ſchwaͤcher ent- wickelt und daher der ganze Koͤrperbau zarter und ſchwaͤcher, als bei den gefaͤrbten Thieren derſelben Art. Ebenſo werden auch die Sinnes- organe und das Nervenſyſtem durch dieſen Pigmentmangel eigenthuͤm- lich afficirt. Katzen mit blauen Augen ſind jederzeit taub. Die Schim- mel zeichnen ſich vor den gefaͤrbten Pferden durch die beſondere Nei- gung zur Bildung ſarkomatoͤſer Geſchwuͤlſte aus. Auch beim Menſchen iſt der Grad der Pigmententwickelung in der aͤußeren Haut vom groͤß- ten Einfluſſe auf die Empfaͤnglichkeit des Organismus fuͤr gewiſſe Krankheiten, ſo daß z. B. Europaͤer mit dunkler Hautfarbe, ſchwarzen Haaren und braunen Augen, ſich leichter in den Tropengegenden ak- klimatiſiren, und viel weniger den dort herrſchenden Krankheiten (Le-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/215>, abgerufen am 27.11.2024.