Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Wechselbezügliche oder correlative Anpassung.
duellen Entwickelungsgeschichte der Frösche und Salamander in jedem
Frühling beobachtet werden kann. Ebenso aber, wie jeder einzelne
Frosch und jeder einzelne Salamander aus dem ursprünglich kiemen-
athmenden Amphibium späterhin in ein lungenathmendes sich ver-
wandelt, so ist auch die ganze Gruppe der Frösche und Salamander
ursprünglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thie-
ren entstanden. Die Sozobranchien sind noch bis auf den heutigen
Tag auf jener niederen Stufe stehen geblieben. Die Ontogenie erläu-
tert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeschichte der Jndivi-
duen diejenige der ganzen Gruppe (S. 9).

An die gehäufte oder cumulative Anpassung schließt sich als eine
dritte Erscheinung der directen oder actuellen Anpassung das Ge-
setz der wechselbezüglichen oder correlativen Anpas-
sung
an. Nach diesem wichtigen Gesetze werden durch die actuelle
Anpassung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert,
welche unmittelbar durch die äußere Einwirkung betroffen werden,
sondern auch andere, nicht unmittelbar davon berührte Theile. Dies
ist eine Folge des organischen Zusammenhangs, und namentlich der
einheitlichen Ernährungsverhältnisse, welche zwischen allen Theilen
jedes Organismus bestehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch
Versetzung an einen trocknen Standort die Behaarung der Blätter zu-
nimmt, so wirkt diese Veränderung auf die Ernährung anderer Theile
zurück, und kann eine Verkürzung der Stengelglieder und somit eine
gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen
Rassen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem türkischen Hunde,
welche durch Anpassung an ein wärmeres Klima ihre Behaarung
mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß rückgebildet.
So zeigen auch die Walfische und die Edentaten (Schuppenthiere,
Gürtelthiere etc.), welche sich durch ihre eigenthümliche Hautbedeckung
am meisten von den übrigen Säugethieren entfernt haben, die größ-
ten Abweichungen in der Bildung des Gebisses. Ferner bekommen
solche Rassen von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen
sich die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun-

Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 13

Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung.
duellen Entwickelungsgeſchichte der Froͤſche und Salamander in jedem
Fruͤhling beobachtet werden kann. Ebenſo aber, wie jeder einzelne
Froſch und jeder einzelne Salamander aus dem urſpruͤnglich kiemen-
athmenden Amphibium ſpaͤterhin in ein lungenathmendes ſich ver-
wandelt, ſo iſt auch die ganze Gruppe der Froͤſche und Salamander
urſpruͤnglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thie-
ren entſtanden. Die Sozobranchien ſind noch bis auf den heutigen
Tag auf jener niederen Stufe ſtehen geblieben. Die Ontogenie erlaͤu-
tert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeſchichte der Jndivi-
duen diejenige der ganzen Gruppe (S. 9).

An die gehaͤufte oder cumulative Anpaſſung ſchließt ſich als eine
dritte Erſcheinung der directen oder actuellen Anpaſſung das Ge-
ſetz der wechſelbezuͤglichen oder correlativen Anpaſ-
ſung
an. Nach dieſem wichtigen Geſetze werden durch die actuelle
Anpaſſung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeaͤndert,
welche unmittelbar durch die aͤußere Einwirkung betroffen werden,
ſondern auch andere, nicht unmittelbar davon beruͤhrte Theile. Dies
iſt eine Folge des organiſchen Zuſammenhangs, und namentlich der
einheitlichen Ernaͤhrungsverhaͤltniſſe, welche zwiſchen allen Theilen
jedes Organismus beſtehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch
Verſetzung an einen trocknen Standort die Behaarung der Blaͤtter zu-
nimmt, ſo wirkt dieſe Veraͤnderung auf die Ernaͤhrung anderer Theile
zuruͤck, und kann eine Verkuͤrzung der Stengelglieder und ſomit eine
gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen
Raſſen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem tuͤrkiſchen Hunde,
welche durch Anpaſſung an ein waͤrmeres Klima ihre Behaarung
mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß ruͤckgebildet.
So zeigen auch die Walfiſche und die Edentaten (Schuppenthiere,
Guͤrtelthiere ꝛc.), welche ſich durch ihre eigenthuͤmliche Hautbedeckung
am meiſten von den uͤbrigen Saͤugethieren entfernt haben, die groͤß-
ten Abweichungen in der Bildung des Gebiſſes. Ferner bekommen
ſolche Raſſen von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen
ſich die Beine verkuͤrzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun-

Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 13
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0214" n="193"/><fw place="top" type="header">Wech&#x017F;elbezu&#x0364;gliche oder correlative Anpa&#x017F;&#x017F;ung.</fw><lb/>
duellen Entwickelungsge&#x017F;chichte der Fro&#x0364;&#x017F;che und Salamander in jedem<lb/>
Fru&#x0364;hling beobachtet werden kann. Eben&#x017F;o aber, wie jeder einzelne<lb/>
Fro&#x017F;ch und jeder einzelne Salamander aus dem ur&#x017F;pru&#x0364;nglich kiemen-<lb/>
athmenden Amphibium &#x017F;pa&#x0364;terhin in ein lungenathmendes &#x017F;ich ver-<lb/>
wandelt, &#x017F;o i&#x017F;t auch die ganze Gruppe der Fro&#x0364;&#x017F;che und Salamander<lb/>
ur&#x017F;pru&#x0364;nglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thie-<lb/>
ren ent&#x017F;tanden. Die Sozobranchien &#x017F;ind noch bis auf den heutigen<lb/>
Tag auf jener niederen Stufe &#x017F;tehen geblieben. Die Ontogenie erla&#x0364;u-<lb/>
tert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsge&#x017F;chichte der Jndivi-<lb/>
duen diejenige der ganzen Gruppe (S. 9).</p><lb/>
        <p>An die geha&#x0364;ufte oder cumulative Anpa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;chließt &#x017F;ich als eine<lb/>
dritte Er&#x017F;cheinung der directen oder actuellen Anpa&#x017F;&#x017F;ung <hi rendition="#g">das Ge-<lb/>
&#x017F;etz der wech&#x017F;elbezu&#x0364;glichen oder correlativen Anpa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung</hi> an. Nach die&#x017F;em wichtigen Ge&#x017F;etze werden durch die actuelle<lb/>
Anpa&#x017F;&#x017F;ung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgea&#x0364;ndert,<lb/>
welche unmittelbar durch die a&#x0364;ußere Einwirkung betroffen werden,<lb/>
&#x017F;ondern auch andere, nicht unmittelbar davon beru&#x0364;hrte Theile. Dies<lb/>
i&#x017F;t eine Folge des organi&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhangs, und namentlich der<lb/>
einheitlichen Erna&#x0364;hrungsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, welche zwi&#x017F;chen allen Theilen<lb/>
jedes Organismus be&#x017F;tehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch<lb/>
Ver&#x017F;etzung an einen trocknen Standort die Behaarung der Bla&#x0364;tter zu-<lb/>
nimmt, &#x017F;o wirkt die&#x017F;e Vera&#x0364;nderung auf die Erna&#x0364;hrung anderer Theile<lb/>
zuru&#x0364;ck, und kann eine Verku&#x0364;rzung der Stengelglieder und &#x017F;omit eine<lb/>
gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen<lb/>
Ra&#x017F;&#x017F;en von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem tu&#x0364;rki&#x017F;chen Hunde,<lb/>
welche durch Anpa&#x017F;&#x017F;ung an ein wa&#x0364;rmeres Klima ihre Behaarung<lb/>
mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß ru&#x0364;ckgebildet.<lb/>
So zeigen auch die Walfi&#x017F;che und die Edentaten (Schuppenthiere,<lb/>
Gu&#x0364;rtelthiere &#xA75B;c.), welche &#x017F;ich durch ihre eigenthu&#x0364;mliche Hautbedeckung<lb/>
am mei&#x017F;ten von den u&#x0364;brigen Sa&#x0364;ugethieren entfernt haben, die gro&#x0364;ß-<lb/>
ten Abweichungen in der Bildung des Gebi&#x017F;&#x017F;es. Ferner bekommen<lb/>
&#x017F;olche Ra&#x017F;&#x017F;en von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen<lb/>
&#x017F;ich die Beine verku&#x0364;rzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Haeckel, Natu&#x0364;rliche Scho&#x0364;pfungsge&#x017F;chichte. 13</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0214] Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung. duellen Entwickelungsgeſchichte der Froͤſche und Salamander in jedem Fruͤhling beobachtet werden kann. Ebenſo aber, wie jeder einzelne Froſch und jeder einzelne Salamander aus dem urſpruͤnglich kiemen- athmenden Amphibium ſpaͤterhin in ein lungenathmendes ſich ver- wandelt, ſo iſt auch die ganze Gruppe der Froͤſche und Salamander urſpruͤnglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thie- ren entſtanden. Die Sozobranchien ſind noch bis auf den heutigen Tag auf jener niederen Stufe ſtehen geblieben. Die Ontogenie erlaͤu- tert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeſchichte der Jndivi- duen diejenige der ganzen Gruppe (S. 9). An die gehaͤufte oder cumulative Anpaſſung ſchließt ſich als eine dritte Erſcheinung der directen oder actuellen Anpaſſung das Ge- ſetz der wechſelbezuͤglichen oder correlativen Anpaſ- ſung an. Nach dieſem wichtigen Geſetze werden durch die actuelle Anpaſſung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeaͤndert, welche unmittelbar durch die aͤußere Einwirkung betroffen werden, ſondern auch andere, nicht unmittelbar davon beruͤhrte Theile. Dies iſt eine Folge des organiſchen Zuſammenhangs, und namentlich der einheitlichen Ernaͤhrungsverhaͤltniſſe, welche zwiſchen allen Theilen jedes Organismus beſtehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Verſetzung an einen trocknen Standort die Behaarung der Blaͤtter zu- nimmt, ſo wirkt dieſe Veraͤnderung auf die Ernaͤhrung anderer Theile zuruͤck, und kann eine Verkuͤrzung der Stengelglieder und ſomit eine gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen Raſſen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem tuͤrkiſchen Hunde, welche durch Anpaſſung an ein waͤrmeres Klima ihre Behaarung mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß ruͤckgebildet. So zeigen auch die Walfiſche und die Edentaten (Schuppenthiere, Guͤrtelthiere ꝛc.), welche ſich durch ihre eigenthuͤmliche Hautbedeckung am meiſten von den uͤbrigen Saͤugethieren entfernt haben, die groͤß- ten Abweichungen in der Bildung des Gebiſſes. Ferner bekommen ſolche Raſſen von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen ſich die Beine verkuͤrzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun- Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 13

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/214
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/214>, abgerufen am 28.11.2024.