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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Geschlechtliche Anpassung. Ursachen der indirecten Anpassung.
organe betreffen, nur in der Gestaltenveränderung der weiblichen Nach-
kommen ihre Wirkung äußern. Diese Erscheinung ist noch sehr dunkel
und wenig beachtet, wahrscheinlich aber von großer Bedeutung für die
Entstehung der früher betrachteten "secundären Sexualcharaktere".

Alle die angeführten Erscheinungen der geschlechtlichen, der
sprungweisen und der individuellen Anpassung, welche wir als "Ge-
setze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpassung", zusam-
menfassen können, sind uns in ihrem eigentlichen Wesen, in ihrem tieferen
ursächlichen Zusammenhang noch äußerst wenig bekannt. Nur so viel
läßt sich schon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß sehr zahlreiche und
wichtige Umbildungen der organischen Formen diesem Vorgange ihre
Entstehung verdanken. Viele und auffallende Formveränderungen
sind lediglich bedingt durch Ursachen, welche zunächst nur auf die Er-
nährung des elterlichen Organismus und zwar auf dessen Fortpflan-
zungsorgane einwirkten. Offenbar sind hierbei die wichtigen Wechsel-
beziehungen, in denen die Geschlechtsorgane zu den übrigen Körper-
theilen stehen, von der größten Bedeutung. Von diesen werden wir
sogleich bei dem Gesetze der wechselbezüglichen Anpassung noch mehr zu
sagen haben. Wie mächtig überhaupt Veränderungen in den Lebens-
bedingungen, in der Ernährung auf die Fortpflanzung der Organis-
men einwirken, beweist allein schon die merkwürdige Thatsache, daß
zahlreiche wilde Thiere, die wir in unseren zoologischen Gärten halten,
und ebenso viele in unsere botanischen Gärten verpflanzte exotische
Gewächse nicht mehr im Stande sind, sich fortzupflanzen, so z. B. die
meisten Raubvögel, Papageyen und Affen. Auch der Elephant und
die bärenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenschaft fast niemals
Junge. Ebenso werden viele Pflanzen im Culturzustand unfruchtbar.
Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geschlechter, aber keine
Befruchtung oder keine Entwickelung der befruchteten Keine. Hieraus
ergiebt sich unzweifelhaft, daß die durch den Culturzustand veränderte
Ernährungsweise die Fortpflanzungsfähigkeit gänzlich aufzuheben, also
den größten Einfluß auf die Geschlechtsorgane auszuüben im Stande
ist. Ebenso können andere Anpassungen oder Ernährungsverände-

Geſchlechtliche Anpaſſung. Urſachen der indirecten Anpaſſung.
organe betreffen, nur in der Geſtaltenveraͤnderung der weiblichen Nach-
kommen ihre Wirkung aͤußern. Dieſe Erſcheinung iſt noch ſehr dunkel
und wenig beachtet, wahrſcheinlich aber von großer Bedeutung fuͤr die
Entſtehung der fruͤher betrachteten „ſecundaͤren Sexualcharaktere“.

Alle die angefuͤhrten Erſcheinungen der geſchlechtlichen, der
ſprungweiſen und der individuellen Anpaſſung, welche wir als „Ge-
ſetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpaſſung“, zuſam-
menfaſſen koͤnnen, ſind uns in ihrem eigentlichen Weſen, in ihrem tieferen
urſaͤchlichen Zuſammenhang noch aͤußerſt wenig bekannt. Nur ſo viel
laͤßt ſich ſchon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß ſehr zahlreiche und
wichtige Umbildungen der organiſchen Formen dieſem Vorgange ihre
Entſtehung verdanken. Viele und auffallende Formveraͤnderungen
ſind lediglich bedingt durch Urſachen, welche zunaͤchſt nur auf die Er-
naͤhrung des elterlichen Organismus und zwar auf deſſen Fortpflan-
zungsorgane einwirkten. Offenbar ſind hierbei die wichtigen Wechſel-
beziehungen, in denen die Geſchlechtsorgane zu den uͤbrigen Koͤrper-
theilen ſtehen, von der groͤßten Bedeutung. Von dieſen werden wir
ſogleich bei dem Geſetze der wechſelbezuͤglichen Anpaſſung noch mehr zu
ſagen haben. Wie maͤchtig uͤberhaupt Veraͤnderungen in den Lebens-
bedingungen, in der Ernaͤhrung auf die Fortpflanzung der Organis-
men einwirken, beweiſt allein ſchon die merkwuͤrdige Thatſache, daß
zahlreiche wilde Thiere, die wir in unſeren zoologiſchen Gaͤrten halten,
und ebenſo viele in unſere botaniſchen Gaͤrten verpflanzte exotiſche
Gewaͤchſe nicht mehr im Stande ſind, ſich fortzupflanzen, ſo z. B. die
meiſten Raubvoͤgel, Papageyen und Affen. Auch der Elephant und
die baͤrenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenſchaft faſt niemals
Junge. Ebenſo werden viele Pflanzen im Culturzuſtand unfruchtbar.
Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geſchlechter, aber keine
Befruchtung oder keine Entwickelung der befruchteten Keine. Hieraus
ergiebt ſich unzweifelhaft, daß die durch den Culturzuſtand veraͤnderte
Ernaͤhrungsweiſe die Fortpflanzungsfaͤhigkeit gaͤnzlich aufzuheben, alſo
den groͤßten Einfluß auf die Geſchlechtsorgane auszuuͤben im Stande
iſt. Ebenſo koͤnnen andere Anpaſſungen oder Ernaͤhrungsveraͤnde-

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[183/0204] Geſchlechtliche Anpaſſung. Urſachen der indirecten Anpaſſung. organe betreffen, nur in der Geſtaltenveraͤnderung der weiblichen Nach- kommen ihre Wirkung aͤußern. Dieſe Erſcheinung iſt noch ſehr dunkel und wenig beachtet, wahrſcheinlich aber von großer Bedeutung fuͤr die Entſtehung der fruͤher betrachteten „ſecundaͤren Sexualcharaktere“. Alle die angefuͤhrten Erſcheinungen der geſchlechtlichen, der ſprungweiſen und der individuellen Anpaſſung, welche wir als „Ge- ſetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpaſſung“, zuſam- menfaſſen koͤnnen, ſind uns in ihrem eigentlichen Weſen, in ihrem tieferen urſaͤchlichen Zuſammenhang noch aͤußerſt wenig bekannt. Nur ſo viel laͤßt ſich ſchon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß ſehr zahlreiche und wichtige Umbildungen der organiſchen Formen dieſem Vorgange ihre Entſtehung verdanken. Viele und auffallende Formveraͤnderungen ſind lediglich bedingt durch Urſachen, welche zunaͤchſt nur auf die Er- naͤhrung des elterlichen Organismus und zwar auf deſſen Fortpflan- zungsorgane einwirkten. Offenbar ſind hierbei die wichtigen Wechſel- beziehungen, in denen die Geſchlechtsorgane zu den uͤbrigen Koͤrper- theilen ſtehen, von der groͤßten Bedeutung. Von dieſen werden wir ſogleich bei dem Geſetze der wechſelbezuͤglichen Anpaſſung noch mehr zu ſagen haben. Wie maͤchtig uͤberhaupt Veraͤnderungen in den Lebens- bedingungen, in der Ernaͤhrung auf die Fortpflanzung der Organis- men einwirken, beweiſt allein ſchon die merkwuͤrdige Thatſache, daß zahlreiche wilde Thiere, die wir in unſeren zoologiſchen Gaͤrten halten, und ebenſo viele in unſere botaniſchen Gaͤrten verpflanzte exotiſche Gewaͤchſe nicht mehr im Stande ſind, ſich fortzupflanzen, ſo z. B. die meiſten Raubvoͤgel, Papageyen und Affen. Auch der Elephant und die baͤrenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenſchaft faſt niemals Junge. Ebenſo werden viele Pflanzen im Culturzuſtand unfruchtbar. Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geſchlechter, aber keine Befruchtung oder keine Entwickelung der befruchteten Keine. Hieraus ergiebt ſich unzweifelhaft, daß die durch den Culturzuſtand veraͤnderte Ernaͤhrungsweiſe die Fortpflanzungsfaͤhigkeit gaͤnzlich aufzuheben, alſo den groͤßten Einfluß auf die Geſchlechtsorgane auszuuͤben im Stande iſt. Ebenſo koͤnnen andere Anpaſſungen oder Ernaͤhrungsveraͤnde-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/204>, abgerufen am 29.11.2024.