Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Monströse oder sprungweise Anpassung.

Weniger wichtig und allgemein, als dieses Gesetz der indivi-
duellen Abänderung, ist ein zweites Gesetz der indirecten Anpassung,
welches wir das Gesetz der monströsen oder sprungweisen
Anpassung
nennen wollen. Hier sind die Abweichungen des kind-
lichen Organismus von der elterlichen Form so auffallend, daß wir
sie in der Regel als Mißgeburten oder Monstrositäten bezeichnen kön-
nen. Diese werden in vielen Fällen, wie es durch Experimente nach-
gewiesen ist, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organismus
einer bestimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Ernäh-
rungsverhältnisse versetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere
auf seine Ernährung mächtig einwirkende Einflüsse in bestimmter Weise
abändert. Die neue Existenzbedingung bewirkt eine starke und auffal-
lende Abänderung der Gestalt, aber nicht an dem unmittelbar davon
betroffenen Organismus, sondern erst an dessen Nachkommenschaft.
Die Art und Weise dieser Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, ist
uns auch hier nicht möglich, und wir können nur ganz im Allgemei-
nen den ursächlichen Zusammenhang zwischen der monströsen Bil-
dung des Kindes und einer gewissen Veränderung in den Existenzbe-
dingungen seiner Eltern, sowie deren Einfluß auf die Fortpflanzungs-
organe der letzteren, feststellen. Jn diese Reihe der monströsen oder
sprungweisen Abänderungen gehören wahrscheinlich die früher erwähn-
ten Erscheinungen des Albinismus, sowie die einzelnen Fälle von
Menschen mit sechs Fingern und Zehen, von ungehörnten Rindern, so-
wie von Schafen und Ziegen mit vier oder sechs Hörnern. Wahr-
scheinlich verdankt in allen diesen Fällen die monströse Abänderung
ihre erste Entstehung einer Ursache, welche zunächst nur das Repro-
ductionssystem des elterlichen Organismus afficirte.

Als eine dritte eigenthümliche Aeußerung der indirecten Anpassung
können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexuellen
Anpassung
bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige Thatsache,
daß bestimmte Einflüsse, welche auf die männlichen Fortpflanzungs-
organe einwirken, nur in der Formbildung der männlichen Nachkom-
men, und ebenso andere Einflüsse, welche die weiblichen Geschlechts-

Monſtroͤſe oder ſprungweiſe Anpaſſung.

Weniger wichtig und allgemein, als dieſes Geſetz der indivi-
duellen Abaͤnderung, iſt ein zweites Geſetz der indirecten Anpaſſung,
welches wir das Geſetz der monſtroͤſen oder ſprungweiſen
Anpaſſung
nennen wollen. Hier ſind die Abweichungen des kind-
lichen Organismus von der elterlichen Form ſo auffallend, daß wir
ſie in der Regel als Mißgeburten oder Monſtroſitaͤten bezeichnen koͤn-
nen. Dieſe werden in vielen Faͤllen, wie es durch Experimente nach-
gewieſen iſt, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organismus
einer beſtimmten Behandlung unterwirft, in eigenthuͤmliche Ernaͤh-
rungsverhaͤltniſſe verſetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere
auf ſeine Ernaͤhrung maͤchtig einwirkende Einfluͤſſe in beſtimmter Weiſe
abaͤndert. Die neue Exiſtenzbedingung bewirkt eine ſtarke und auffal-
lende Abaͤnderung der Geſtalt, aber nicht an dem unmittelbar davon
betroffenen Organismus, ſondern erſt an deſſen Nachkommenſchaft.
Die Art und Weiſe dieſer Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, iſt
uns auch hier nicht moͤglich, und wir koͤnnen nur ganz im Allgemei-
nen den urſaͤchlichen Zuſammenhang zwiſchen der monſtroͤſen Bil-
dung des Kindes und einer gewiſſen Veraͤnderung in den Exiſtenzbe-
dingungen ſeiner Eltern, ſowie deren Einfluß auf die Fortpflanzungs-
organe der letzteren, feſtſtellen. Jn dieſe Reihe der monſtroͤſen oder
ſprungweiſen Abaͤnderungen gehoͤren wahrſcheinlich die fruͤher erwaͤhn-
ten Erſcheinungen des Albinismus, ſowie die einzelnen Faͤlle von
Menſchen mit ſechs Fingern und Zehen, von ungehoͤrnten Rindern, ſo-
wie von Schafen und Ziegen mit vier oder ſechs Hoͤrnern. Wahr-
ſcheinlich verdankt in allen dieſen Faͤllen die monſtroͤſe Abaͤnderung
ihre erſte Entſtehung einer Urſache, welche zunaͤchſt nur das Repro-
ductionsſyſtem des elterlichen Organismus afficirte.

Als eine dritte eigenthuͤmliche Aeußerung der indirecten Anpaſſung
koͤnnen wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexuellen
Anpaſſung
bezeichnen. So nennen wir die merkwuͤrdige Thatſache,
daß beſtimmte Einfluͤſſe, welche auf die maͤnnlichen Fortpflanzungs-
organe einwirken, nur in der Formbildung der maͤnnlichen Nachkom-
men, und ebenſo andere Einfluͤſſe, welche die weiblichen Geſchlechts-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0203" n="182"/>
        <fw place="top" type="header">Mon&#x017F;tro&#x0364;&#x017F;e oder &#x017F;prungwei&#x017F;e Anpa&#x017F;&#x017F;ung.</fw><lb/>
        <p>Weniger wichtig und allgemein, als die&#x017F;es Ge&#x017F;etz der indivi-<lb/>
duellen Aba&#x0364;nderung, i&#x017F;t ein zweites Ge&#x017F;etz der indirecten Anpa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
welches wir das <hi rendition="#g">Ge&#x017F;etz der mon&#x017F;tro&#x0364;&#x017F;en oder &#x017F;prungwei&#x017F;en<lb/>
Anpa&#x017F;&#x017F;ung</hi> nennen wollen. Hier &#x017F;ind die Abweichungen des kind-<lb/>
lichen Organismus von der elterlichen Form &#x017F;o auffallend, daß wir<lb/>
&#x017F;ie in der Regel als Mißgeburten oder Mon&#x017F;tro&#x017F;ita&#x0364;ten bezeichnen ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Die&#x017F;e werden in vielen Fa&#x0364;llen, wie es durch Experimente nach-<lb/>
gewie&#x017F;en i&#x017F;t, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organismus<lb/>
einer be&#x017F;timmten Behandlung unterwirft, in eigenthu&#x0364;mliche Erna&#x0364;h-<lb/>
rungsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e ver&#x017F;etzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere<lb/>
auf &#x017F;eine Erna&#x0364;hrung ma&#x0364;chtig einwirkende Einflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e in be&#x017F;timmter Wei&#x017F;e<lb/>
aba&#x0364;ndert. Die neue Exi&#x017F;tenzbedingung bewirkt eine &#x017F;tarke und auffal-<lb/>
lende Aba&#x0364;nderung der Ge&#x017F;talt, aber nicht an dem unmittelbar davon<lb/>
betroffenen Organismus, &#x017F;ondern er&#x017F;t an de&#x017F;&#x017F;en Nachkommen&#x017F;chaft.<lb/>
Die Art und Wei&#x017F;e die&#x017F;er Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, i&#x017F;t<lb/>
uns auch hier nicht mo&#x0364;glich, und wir ko&#x0364;nnen nur ganz im Allgemei-<lb/>
nen den ur&#x017F;a&#x0364;chlichen Zu&#x017F;ammenhang zwi&#x017F;chen der mon&#x017F;tro&#x0364;&#x017F;en Bil-<lb/>
dung des Kindes und einer gewi&#x017F;&#x017F;en Vera&#x0364;nderung in den Exi&#x017F;tenzbe-<lb/>
dingungen &#x017F;einer Eltern, &#x017F;owie deren Einfluß auf die Fortpflanzungs-<lb/>
organe der letzteren, fe&#x017F;t&#x017F;tellen. Jn die&#x017F;e Reihe der mon&#x017F;tro&#x0364;&#x017F;en oder<lb/>
&#x017F;prungwei&#x017F;en Aba&#x0364;nderungen geho&#x0364;ren wahr&#x017F;cheinlich die fru&#x0364;her erwa&#x0364;hn-<lb/>
ten Er&#x017F;cheinungen des Albinismus, &#x017F;owie die einzelnen Fa&#x0364;lle von<lb/>
Men&#x017F;chen mit &#x017F;echs Fingern und Zehen, von ungeho&#x0364;rnten Rindern, &#x017F;o-<lb/>
wie von Schafen und Ziegen mit vier oder &#x017F;echs Ho&#x0364;rnern. Wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich verdankt in allen die&#x017F;en Fa&#x0364;llen die mon&#x017F;tro&#x0364;&#x017F;e Aba&#x0364;nderung<lb/>
ihre er&#x017F;te Ent&#x017F;tehung einer Ur&#x017F;ache, welche zuna&#x0364;ch&#x017F;t nur das Repro-<lb/>
ductions&#x017F;y&#x017F;tem des elterlichen Organismus afficirte.</p><lb/>
        <p>Als eine dritte eigenthu&#x0364;mliche Aeußerung der indirecten Anpa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
ko&#x0364;nnen wir <hi rendition="#g">das Ge&#x017F;etz der ge&#x017F;chlechtlichen oder &#x017F;exuellen<lb/>
Anpa&#x017F;&#x017F;ung</hi> bezeichnen. So nennen wir die merkwu&#x0364;rdige That&#x017F;ache,<lb/>
daß be&#x017F;timmte Einflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, welche auf die ma&#x0364;nnlichen Fortpflanzungs-<lb/>
organe einwirken, nur in der Formbildung der ma&#x0364;nnlichen Nachkom-<lb/>
men, und eben&#x017F;o andere Einflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, welche die weiblichen Ge&#x017F;chlechts-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[182/0203] Monſtroͤſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. Weniger wichtig und allgemein, als dieſes Geſetz der indivi- duellen Abaͤnderung, iſt ein zweites Geſetz der indirecten Anpaſſung, welches wir das Geſetz der monſtroͤſen oder ſprungweiſen Anpaſſung nennen wollen. Hier ſind die Abweichungen des kind- lichen Organismus von der elterlichen Form ſo auffallend, daß wir ſie in der Regel als Mißgeburten oder Monſtroſitaͤten bezeichnen koͤn- nen. Dieſe werden in vielen Faͤllen, wie es durch Experimente nach- gewieſen iſt, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organismus einer beſtimmten Behandlung unterwirft, in eigenthuͤmliche Ernaͤh- rungsverhaͤltniſſe verſetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere auf ſeine Ernaͤhrung maͤchtig einwirkende Einfluͤſſe in beſtimmter Weiſe abaͤndert. Die neue Exiſtenzbedingung bewirkt eine ſtarke und auffal- lende Abaͤnderung der Geſtalt, aber nicht an dem unmittelbar davon betroffenen Organismus, ſondern erſt an deſſen Nachkommenſchaft. Die Art und Weiſe dieſer Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, iſt uns auch hier nicht moͤglich, und wir koͤnnen nur ganz im Allgemei- nen den urſaͤchlichen Zuſammenhang zwiſchen der monſtroͤſen Bil- dung des Kindes und einer gewiſſen Veraͤnderung in den Exiſtenzbe- dingungen ſeiner Eltern, ſowie deren Einfluß auf die Fortpflanzungs- organe der letzteren, feſtſtellen. Jn dieſe Reihe der monſtroͤſen oder ſprungweiſen Abaͤnderungen gehoͤren wahrſcheinlich die fruͤher erwaͤhn- ten Erſcheinungen des Albinismus, ſowie die einzelnen Faͤlle von Menſchen mit ſechs Fingern und Zehen, von ungehoͤrnten Rindern, ſo- wie von Schafen und Ziegen mit vier oder ſechs Hoͤrnern. Wahr- ſcheinlich verdankt in allen dieſen Faͤllen die monſtroͤſe Abaͤnderung ihre erſte Entſtehung einer Urſache, welche zunaͤchſt nur das Repro- ductionsſyſtem des elterlichen Organismus afficirte. Als eine dritte eigenthuͤmliche Aeußerung der indirecten Anpaſſung koͤnnen wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexuellen Anpaſſung bezeichnen. So nennen wir die merkwuͤrdige Thatſache, daß beſtimmte Einfluͤſſe, welche auf die maͤnnlichen Fortpflanzungs- organe einwirken, nur in der Formbildung der maͤnnlichen Nachkom- men, und ebenſo andere Einfluͤſſe, welche die weiblichen Geſchlechts-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/203
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/203>, abgerufen am 29.11.2024.