Unterscheidung der indirecten und directen Anpassung.
nungen ganz allgemein verbreitet und bekannt sind, und wir sogleich zur Betrachtung der verschiedenen Anpassungsgesetze übergehen wer- den, wollen wir uns hier nicht länger bei den allgemeinen Thatsachen der Abänderung aufhalten.
Gleichwie die verschiedenen Vererbungsgesetze sich naturgemäß in die beiden Reihen der conservativen und der progressiven Vererbung sondern lassen, so kann man unter den Anpassungsgesetzen ebenfalls zwei verschiedene Reihen unterscheiden, nämlich erstens die Reihe der indirecten oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen oder unmittelbaren Anpassungsgesetze. Letztere kann man auch als actuelle, erstere als potentielle Anpassungsgesetze bezeichnen.
Die erste Reihe, welche die Erscheinungen der unmittelbaren oder indirecten (potentiellen) Anpassung umfaßt, ist im Ganzen bis jetzt sehr wenig berücksichtigt worden, und es bleibt das Verdienst Darwin's, auf diese Reihe von Veränderungen ganz besonders hin- gewiesen zu haben. Es ist etwas schwierig, diesen Gegenstand gehö- rig klar darzustellen; ich werde versuchen, Jhnen denselben nachher durch Beispiele deutlich zu machen. Ganz allgemein ausgedrückt besteht die indirecte oder potentielle Anpassung in der Thatsache, daß gewisse Veränderungen des Organismus, welche durch den Einfluß der Nahrung (im weitesten Sinne) und überhaupt der äußeren Exi- stenzbedingungen bewirkt werden, nicht in der individuellen Formbe- schaffenheit des betroffenen Organismus selbst, sondern in derjenigen seiner Nachkommen sich äußern und in die Erscheinung treten. So wird namentlich bei den Organismen, welche sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproductionssystem oder der Geschlechts- apparat oft durch äußere Wirkungen, welche im Uebrigen den Orga- nismus wenig berühren, dergestalt beeinflußt, daß die Nachkommen- schaft desselben eine ganz veränderte Bildung zeigt. Sehr auffällig kann man das an den künstlich erzeugten Monstrositäten sehen. Man kann Monstrositäten oder Mißgeburten dadurch erzeugen, daß man den elterlichen Organismus einer bestimmten, außerordentlichen Le- bensbedingung unterwirft. Diese ungewohnte Lebensbedingung er-
Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 12
Unterſcheidung der indirecten und directen Anpaſſung.
nungen ganz allgemein verbreitet und bekannt ſind, und wir ſogleich zur Betrachtung der verſchiedenen Anpaſſungsgeſetze uͤbergehen wer- den, wollen wir uns hier nicht laͤnger bei den allgemeinen Thatſachen der Abaͤnderung aufhalten.
Gleichwie die verſchiedenen Vererbungsgeſetze ſich naturgemaͤß in die beiden Reihen der conſervativen und der progreſſiven Vererbung ſondern laſſen, ſo kann man unter den Anpaſſungsgeſetzen ebenfalls zwei verſchiedene Reihen unterſcheiden, naͤmlich erſtens die Reihe der indirecten oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen oder unmittelbaren Anpaſſungsgeſetze. Letztere kann man auch als actuelle, erſtere als potentielle Anpaſſungsgeſetze bezeichnen.
Die erſte Reihe, welche die Erſcheinungen der unmittelbaren oder indirecten (potentiellen) Anpaſſung umfaßt, iſt im Ganzen bis jetzt ſehr wenig beruͤckſichtigt worden, und es bleibt das Verdienſt Darwin’s, auf dieſe Reihe von Veraͤnderungen ganz beſonders hin- gewieſen zu haben. Es iſt etwas ſchwierig, dieſen Gegenſtand gehoͤ- rig klar darzuſtellen; ich werde verſuchen, Jhnen denſelben nachher durch Beiſpiele deutlich zu machen. Ganz allgemein ausgedruͤckt beſteht die indirecte oder potentielle Anpaſſung in der Thatſache, daß gewiſſe Veraͤnderungen des Organismus, welche durch den Einfluß der Nahrung (im weiteſten Sinne) und uͤberhaupt der aͤußeren Exi- ſtenzbedingungen bewirkt werden, nicht in der individuellen Formbe- ſchaffenheit des betroffenen Organismus ſelbſt, ſondern in derjenigen ſeiner Nachkommen ſich aͤußern und in die Erſcheinung treten. So wird namentlich bei den Organismen, welche ſich auf geſchlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproductionsſyſtem oder der Geſchlechts- apparat oft durch aͤußere Wirkungen, welche im Uebrigen den Orga- nismus wenig beruͤhren, dergeſtalt beeinflußt, daß die Nachkommen- ſchaft deſſelben eine ganz veraͤnderte Bildung zeigt. Sehr auffaͤllig kann man das an den kuͤnſtlich erzeugten Monſtroſitaͤten ſehen. Man kann Monſtroſitaͤten oder Mißgeburten dadurch erzeugen, daß man den elterlichen Organismus einer beſtimmten, außerordentlichen Le- bensbedingung unterwirft. Dieſe ungewohnte Lebensbedingung er-
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 12
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Unterſcheidung der indirecten und directen Anpaſſung.
nungen ganz allgemein verbreitet und bekannt ſind, und wir ſogleich
zur Betrachtung der verſchiedenen Anpaſſungsgeſetze uͤbergehen wer-
den, wollen wir uns hier nicht laͤnger bei den allgemeinen Thatſachen
der Abaͤnderung aufhalten.
Gleichwie die verſchiedenen Vererbungsgeſetze ſich naturgemaͤß in
die beiden Reihen der conſervativen und der progreſſiven Vererbung
ſondern laſſen, ſo kann man unter den Anpaſſungsgeſetzen ebenfalls
zwei verſchiedene Reihen unterſcheiden, naͤmlich erſtens die Reihe der
indirecten oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen
oder unmittelbaren Anpaſſungsgeſetze. Letztere kann man auch als
actuelle, erſtere als potentielle Anpaſſungsgeſetze bezeichnen.
Die erſte Reihe, welche die Erſcheinungen der unmittelbaren oder
indirecten (potentiellen) Anpaſſung umfaßt, iſt im Ganzen bis
jetzt ſehr wenig beruͤckſichtigt worden, und es bleibt das Verdienſt
Darwin’s, auf dieſe Reihe von Veraͤnderungen ganz beſonders hin-
gewieſen zu haben. Es iſt etwas ſchwierig, dieſen Gegenſtand gehoͤ-
rig klar darzuſtellen; ich werde verſuchen, Jhnen denſelben nachher
durch Beiſpiele deutlich zu machen. Ganz allgemein ausgedruͤckt
beſteht die indirecte oder potentielle Anpaſſung in der Thatſache, daß
gewiſſe Veraͤnderungen des Organismus, welche durch den Einfluß
der Nahrung (im weiteſten Sinne) und uͤberhaupt der aͤußeren Exi-
ſtenzbedingungen bewirkt werden, nicht in der individuellen Formbe-
ſchaffenheit des betroffenen Organismus ſelbſt, ſondern in derjenigen
ſeiner Nachkommen ſich aͤußern und in die Erſcheinung treten. So
wird namentlich bei den Organismen, welche ſich auf geſchlechtlichem
Wege fortpflanzen, das Reproductionsſyſtem oder der Geſchlechts-
apparat oft durch aͤußere Wirkungen, welche im Uebrigen den Orga-
nismus wenig beruͤhren, dergeſtalt beeinflußt, daß die Nachkommen-
ſchaft deſſelben eine ganz veraͤnderte Bildung zeigt. Sehr auffaͤllig
kann man das an den kuͤnſtlich erzeugten Monſtroſitaͤten ſehen. Man
kann Monſtroſitaͤten oder Mißgeburten dadurch erzeugen, daß man
den elterlichen Organismus einer beſtimmten, außerordentlichen Le-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/198>, abgerufen am 29.11.2024.
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