Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Schöpfung und Selbstzeugung.
sehr einfacher Organisation, entstehen können. Hierher gehört die
grosse Mehrzahl aller Vorstellungen, welche sich die Naturforscher der
verschiedensten Zeiten über die Urzeugung gebildet haben. Schon
Aristoteles behauptete, dass aus warmem Schlamme oder faulenden
vegetabilischen Substanzen niedere Thiere (Würmer, Insecten etc.) ent-
stünden. Als man später mit dem Mikroskop die Fülle von kleinen,
dem blossen Auge unsichtbaren Organismen entdeckte, welche alle Ge-
wässer bevölkern, nahm man für einen grossen Theil dieser kleinen
Pflanzen und Thiere eine selbstständige Entstehung aus der zersetz-
ten organischen Substanz an, welche von abgestorbenen Organismen
geliefert wird und in allen Gewässern verbreitet ist. Diese Vorstellung
von der Generatio aequivoca wurde um so mehr befestigt und ver-
breitet, als man bald entdeckte, dass in allen Flüssigkeiten, welche
durch Uebergiessung (Infusion) organischer Substanzen mit Wasser
bereitet werden, derartige niedere Thiere und Pflanzen gleichzeitig mit
deren Zersetzung massenhaft entstehen (Infusorien, Rotatorien, An-
guillulen, Pilze, Algen, vielerlei Protisten). Vorzüglich wurde diese
Generatio aequivoca für die Eingeweidewürmer und andere Organis-
men angenommen, deren Entstehung an ihrem abgeschlossenen Wohn-
orte auf dem Wege der gewöhnlichen Zeugung man sich nicht erklären
konnte. Als nun später die verwickelten und oft unter Wanderungen
u. dgl. so versteckten Fortpflanzungsverhältnisse dieser Organismen
entdeckt wurden, trat ein allgemeiner Rückschlag ein, indem man nun
hieraus die homogene Fortpflanzung für alle Organismen deducirte
und die Urzeugung für alle Organismen ohne Ausnahme bestritt. Die-
ser Satz wurde so dogmatisch verallgemeinert, dass der "Glaube an
die Generatio aequivoca" in den letzten Decennien fast allgemein für
ein Kriterium einer unwissenschaftlichen biologischen Richtung galt.
Wie einseitig dieser Rückschlag sich entwickelte, zeigen am deutlich-
sten die lebhaften Streitigkeiten, welche in den letzten Jahren wiederum
im Schoosse der französischen Akademie geführt wurden, und in denen
Pouchet für, Pasteur gegen die Generatio aequivoca eintrat.

Für die uns hier beschäftigende Frage von der ersten Entstehung
der organischen Wesen hat diese Form der sogenannten Generatio
aequivoca, bei welcher sich gewisse niedere Organismen aus vorhan-
dener organischer Substanz entwickeln, die von zersetzten Organis-
men herrührt, gar kein Interesse oder doch nur einen ganz unterge-
ordneten Werth.1) Denn das Vorhandensein dieser organischen Sub-

1) Als unsere rein subjective Ueberzeugung in dieser Frage wollen wir nur
aussprechen, dass die Urzeugung oder Generatio aequivoca in diesem Sinne, wie
sie von den allermeisten Naturforschern verstanden wird, uns durch alle bis-
herigen Untersuchungen, durch alle die zahlreichen Beobachtungen und Experi-
mente, keinesfalls widerlegt, aber auch noch nicht bewiesen erscheint. Wir

Schöpfung und Selbstzeugung.
sehr einfacher Organisation, entstehen können. Hierher gehört die
grosse Mehrzahl aller Vorstellungen, welche sich die Naturforscher der
verschiedensten Zeiten über die Urzeugung gebildet haben. Schon
Aristoteles behauptete, dass aus warmem Schlamme oder faulenden
vegetabilischen Substanzen niedere Thiere (Würmer, Insecten etc.) ent-
stünden. Als man später mit dem Mikroskop die Fülle von kleinen,
dem blossen Auge unsichtbaren Organismen entdeckte, welche alle Ge-
wässer bevölkern, nahm man für einen grossen Theil dieser kleinen
Pflanzen und Thiere eine selbstständige Entstehung aus der zersetz-
ten organischen Substanz an, welche von abgestorbenen Organismen
geliefert wird und in allen Gewässern verbreitet ist. Diese Vorstellung
von der Generatio aequivoca wurde um so mehr befestigt und ver-
breitet, als man bald entdeckte, dass in allen Flüssigkeiten, welche
durch Uebergiessung (Infusion) organischer Substanzen mit Wasser
bereitet werden, derartige niedere Thiere und Pflanzen gleichzeitig mit
deren Zersetzung massenhaft entstehen (Infusorien, Rotatorien, An-
guillulen, Pilze, Algen, vielerlei Protisten). Vorzüglich wurde diese
Generatio aequivoca für die Eingeweidewürmer und andere Organis-
men angenommen, deren Entstehung an ihrem abgeschlossenen Wohn-
orte auf dem Wege der gewöhnlichen Zeugung man sich nicht erklären
konnte. Als nun später die verwickelten und oft unter Wanderungen
u. dgl. so versteckten Fortpflanzungsverhältnisse dieser Organismen
entdeckt wurden, trat ein allgemeiner Rückschlag ein, indem man nun
hieraus die homogene Fortpflanzung für alle Organismen deducirte
und die Urzeugung für alle Organismen ohne Ausnahme bestritt. Die-
ser Satz wurde so dogmatisch verallgemeinert, dass der „Glaube an
die Generatio aequivoca“ in den letzten Decennien fast allgemein für
ein Kriterium einer unwissenschaftlichen biologischen Richtung galt.
Wie einseitig dieser Rückschlag sich entwickelte, zeigen am deutlich-
sten die lebhaften Streitigkeiten, welche in den letzten Jahren wiederum
im Schoosse der französischen Akademie geführt wurden, und in denen
Pouchet für, Pasteur gegen die Generatio aequivoca eintrat.

Für die uns hier beschäftigende Frage von der ersten Entstehung
der organischen Wesen hat diese Form der sogenannten Generatio
aequivoca, bei welcher sich gewisse niedere Organismen aus vorhan-
dener organischer Substanz entwickeln, die von zersetzten Organis-
men herrührt, gar kein Interesse oder doch nur einen ganz unterge-
ordneten Werth.1) Denn das Vorhandensein dieser organischen Sub-

1) Als unsere rein subjective Ueberzeugung in dieser Frage wollen wir nur
aussprechen, dass die Urzeugung oder Generatio aequivoca in diesem Sinne, wie
sie von den allermeisten Naturforschern verstanden wird, uns durch alle bis-
herigen Untersuchungen, durch alle die zahlreichen Beobachtungen und Experi-
mente, keinesfalls widerlegt, aber auch noch nicht bewiesen erscheint. Wir
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0215" n="176"/><fw place="top" type="header">Schöpfung und Selbstzeugung.</fw><lb/>
sehr einfacher Organisation, entstehen können. Hierher gehört die<lb/>
grosse Mehrzahl aller Vorstellungen, welche sich die Naturforscher der<lb/>
verschiedensten Zeiten über die Urzeugung gebildet haben. Schon<lb/><hi rendition="#g">Aristoteles</hi> behauptete, dass aus warmem Schlamme oder faulenden<lb/>
vegetabilischen Substanzen niedere Thiere (Würmer, Insecten etc.) ent-<lb/>
stünden. Als man später mit dem Mikroskop die Fülle von kleinen,<lb/>
dem blossen Auge unsichtbaren Organismen entdeckte, welche alle Ge-<lb/>
wässer bevölkern, nahm man für einen grossen Theil dieser kleinen<lb/>
Pflanzen und Thiere eine selbstständige Entstehung aus der zersetz-<lb/>
ten organischen Substanz an, welche von abgestorbenen Organismen<lb/>
geliefert wird und in allen Gewässern verbreitet ist. Diese Vorstellung<lb/>
von der Generatio aequivoca wurde um so mehr befestigt und ver-<lb/>
breitet, als man bald entdeckte, dass in allen Flüssigkeiten, welche<lb/>
durch Uebergiessung (Infusion) organischer Substanzen mit Wasser<lb/>
bereitet werden, derartige niedere Thiere und Pflanzen gleichzeitig mit<lb/>
deren Zersetzung massenhaft entstehen (Infusorien, Rotatorien, An-<lb/>
guillulen, Pilze, Algen, vielerlei Protisten). Vorzüglich wurde diese<lb/>
Generatio aequivoca für die Eingeweidewürmer und andere Organis-<lb/>
men angenommen, deren Entstehung an ihrem abgeschlossenen Wohn-<lb/>
orte auf dem Wege der gewöhnlichen Zeugung man sich nicht erklären<lb/>
konnte. Als nun später die verwickelten und oft unter Wanderungen<lb/>
u. dgl. so versteckten Fortpflanzungsverhältnisse dieser Organismen<lb/>
entdeckt wurden, trat ein allgemeiner Rückschlag ein, indem man nun<lb/>
hieraus die homogene Fortpflanzung für alle Organismen deducirte<lb/>
und die Urzeugung für alle Organismen ohne Ausnahme bestritt. Die-<lb/>
ser Satz wurde so dogmatisch verallgemeinert, dass der &#x201E;Glaube an<lb/>
die Generatio aequivoca&#x201C; in den letzten Decennien fast allgemein für<lb/>
ein Kriterium einer unwissenschaftlichen biologischen Richtung galt.<lb/>
Wie einseitig dieser Rückschlag sich entwickelte, zeigen am deutlich-<lb/>
sten die lebhaften Streitigkeiten, welche in den letzten Jahren wiederum<lb/>
im Schoosse der französischen Akademie geführt wurden, und in denen<lb/><hi rendition="#g">Pouchet</hi> für, <hi rendition="#g">Pasteur</hi> gegen die Generatio aequivoca eintrat.</p><lb/>
            <p>Für die uns hier beschäftigende Frage von der ersten Entstehung<lb/>
der organischen Wesen hat diese Form der sogenannten Generatio<lb/>
aequivoca, bei welcher sich gewisse niedere Organismen aus vorhan-<lb/>
dener <hi rendition="#g">organischer</hi> Substanz entwickeln, die von zersetzten Organis-<lb/>
men herrührt, gar kein Interesse oder doch nur einen ganz unterge-<lb/>
ordneten Werth.<note xml:id="seg2pn_18_1" next="#seg2pn_18_2" place="foot" n="1)">Als unsere rein subjective Ueberzeugung in dieser Frage wollen wir nur<lb/>
aussprechen, dass die Urzeugung oder Generatio aequivoca in diesem Sinne, wie<lb/>
sie von den allermeisten Naturforschern verstanden wird, uns durch alle bis-<lb/>
herigen Untersuchungen, durch alle die zahlreichen Beobachtungen und Experi-<lb/>
mente, keinesfalls widerlegt, aber auch noch nicht bewiesen erscheint. Wir</note> Denn das Vorhandensein dieser organischen Sub-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0215] Schöpfung und Selbstzeugung. sehr einfacher Organisation, entstehen können. Hierher gehört die grosse Mehrzahl aller Vorstellungen, welche sich die Naturforscher der verschiedensten Zeiten über die Urzeugung gebildet haben. Schon Aristoteles behauptete, dass aus warmem Schlamme oder faulenden vegetabilischen Substanzen niedere Thiere (Würmer, Insecten etc.) ent- stünden. Als man später mit dem Mikroskop die Fülle von kleinen, dem blossen Auge unsichtbaren Organismen entdeckte, welche alle Ge- wässer bevölkern, nahm man für einen grossen Theil dieser kleinen Pflanzen und Thiere eine selbstständige Entstehung aus der zersetz- ten organischen Substanz an, welche von abgestorbenen Organismen geliefert wird und in allen Gewässern verbreitet ist. Diese Vorstellung von der Generatio aequivoca wurde um so mehr befestigt und ver- breitet, als man bald entdeckte, dass in allen Flüssigkeiten, welche durch Uebergiessung (Infusion) organischer Substanzen mit Wasser bereitet werden, derartige niedere Thiere und Pflanzen gleichzeitig mit deren Zersetzung massenhaft entstehen (Infusorien, Rotatorien, An- guillulen, Pilze, Algen, vielerlei Protisten). Vorzüglich wurde diese Generatio aequivoca für die Eingeweidewürmer und andere Organis- men angenommen, deren Entstehung an ihrem abgeschlossenen Wohn- orte auf dem Wege der gewöhnlichen Zeugung man sich nicht erklären konnte. Als nun später die verwickelten und oft unter Wanderungen u. dgl. so versteckten Fortpflanzungsverhältnisse dieser Organismen entdeckt wurden, trat ein allgemeiner Rückschlag ein, indem man nun hieraus die homogene Fortpflanzung für alle Organismen deducirte und die Urzeugung für alle Organismen ohne Ausnahme bestritt. Die- ser Satz wurde so dogmatisch verallgemeinert, dass der „Glaube an die Generatio aequivoca“ in den letzten Decennien fast allgemein für ein Kriterium einer unwissenschaftlichen biologischen Richtung galt. Wie einseitig dieser Rückschlag sich entwickelte, zeigen am deutlich- sten die lebhaften Streitigkeiten, welche in den letzten Jahren wiederum im Schoosse der französischen Akademie geführt wurden, und in denen Pouchet für, Pasteur gegen die Generatio aequivoca eintrat. Für die uns hier beschäftigende Frage von der ersten Entstehung der organischen Wesen hat diese Form der sogenannten Generatio aequivoca, bei welcher sich gewisse niedere Organismen aus vorhan- dener organischer Substanz entwickeln, die von zersetzten Organis- men herrührt, gar kein Interesse oder doch nur einen ganz unterge- ordneten Werth. 1) Denn das Vorhandensein dieser organischen Sub- 1) Als unsere rein subjective Ueberzeugung in dieser Frage wollen wir nur aussprechen, dass die Urzeugung oder Generatio aequivoca in diesem Sinne, wie sie von den allermeisten Naturforschern verstanden wird, uns durch alle bis- herigen Untersuchungen, durch alle die zahlreichen Beobachtungen und Experi- mente, keinesfalls widerlegt, aber auch noch nicht bewiesen erscheint. Wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/215
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/215>, abgerufen am 19.05.2024.