Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Wie? wollte ich durch's Schlüsselloch rufen, Sie, elender Komödiant, nicht einmal an Anstand und Sitte, an ihre Eltern und Anverwandten? Nein, antwortete der Mensch, als hätte er meine Stimme oder auch die seines Gewissens gehört, die Schönheit des Benehmens besteht in der Voraussetzung, zunächst nichts als Luft um sich herum zu haben, der menschliche Körper trägt sich selbst, und gerade in der Kunst, seinen Schwerpunkt da oder dorthin zu werfen, besteht das Charakteristische der plastischen Attitüden. Nun fing er an, Lettice zuerst zu zeigen, wie man mit Grazie stillsteht. Er schrieb ihr dabei ein gewisses Wiegen des Oberkörpers vor, wobei jedoch der Unterkörper ruhen mußte. Nachdem sie dieß begriffen hatte, sagte er: das nächste Stadium wäre nun, aus der Ruhe plötzlich aufgeschreckt zu werden; wie er dieß gesagt hatte, drückte er eine Knallerbse los, worüber ich selbst so erschrack, daß ich den Schreck meiner Nichte nicht sehen konnte. Der Gauner rief aber: Bravo! und korrigirte nur, zu der Natur müßte nun noch etwas Kunst kommen. Er sagte: wenn auch nicht immer Knallerbsen oder Pistolenschüsse fallen, so kommen die Frauen doch oft in die Lage, erschrecken zu müssen. Kindisch ist es, wenn ein Löffel auf die Erde fällt, darüber so zusammenzuzucken, als wenn ein Haus eingefallen wäre; hier genügt die bloße Bewegung der Verwunderung, ein leises Zucken mit den Augenwimpern. Nun zählte er ihr eine allmählige Steigerung von Schreckensvorfällen auf, zeigte ihr, wie sie sich Wie? wollte ich durch’s Schlüsselloch rufen, Sie, elender Komödiant, nicht einmal an Anstand und Sitte, an ihre Eltern und Anverwandten? Nein, antwortete der Mensch, als hätte er meine Stimme oder auch die seines Gewissens gehört, die Schönheit des Benehmens besteht in der Voraussetzung, zunächst nichts als Luft um sich herum zu haben, der menschliche Körper trägt sich selbst, und gerade in der Kunst, seinen Schwerpunkt da oder dorthin zu werfen, besteht das Charakteristische der plastischen Attitüden. Nun fing er an, Lettice zuerst zu zeigen, wie man mit Grazie stillsteht. Er schrieb ihr dabei ein gewisses Wiegen des Oberkörpers vor, wobei jedoch der Unterkörper ruhen mußte. Nachdem sie dieß begriffen hatte, sagte er: das nächste Stadium wäre nun, aus der Ruhe plötzlich aufgeschreckt zu werden; wie er dieß gesagt hatte, drückte er eine Knallerbse los, worüber ich selbst so erschrack, daß ich den Schreck meiner Nichte nicht sehen konnte. Der Gauner rief aber: Bravo! und korrigirte nur, zu der Natur müßte nun noch etwas Kunst kommen. Er sagte: wenn auch nicht immer Knallerbsen oder Pistolenschüsse fallen, so kommen die Frauen doch oft in die Lage, erschrecken zu müssen. Kindisch ist es, wenn ein Löffel auf die Erde fällt, darüber so zusammenzuzucken, als wenn ein Haus eingefallen wäre; hier genügt die bloße Bewegung der Verwunderung, ein leises Zucken mit den Augenwimpern. Nun zählte er ihr eine allmählige Steigerung von Schreckensvorfällen auf, zeigte ihr, wie sie sich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0488" n="460"/> Wie? wollte ich durch’s Schlüsselloch rufen, Sie, elender Komödiant, nicht einmal an Anstand und Sitte, an ihre Eltern und Anverwandten? Nein, antwortete der Mensch, als hätte er meine Stimme oder auch die seines Gewissens gehört, die Schönheit des Benehmens besteht in der Voraussetzung, zunächst nichts als Luft um sich herum zu haben, der menschliche Körper trägt sich selbst, und gerade in der Kunst, seinen Schwerpunkt da oder dorthin zu werfen, besteht das Charakteristische der plastischen Attitüden. Nun fing er an, Lettice zuerst zu zeigen, wie man mit Grazie stillsteht. Er schrieb ihr dabei ein gewisses Wiegen des Oberkörpers vor, wobei jedoch der Unterkörper ruhen mußte. Nachdem sie dieß begriffen hatte, sagte er: das nächste Stadium wäre nun, aus der Ruhe plötzlich aufgeschreckt zu werden; wie er dieß gesagt hatte, drückte er eine Knallerbse los, worüber ich selbst so erschrack, daß ich den Schreck meiner Nichte nicht sehen konnte. Der Gauner rief aber: Bravo! und korrigirte nur, zu der Natur müßte nun noch etwas Kunst kommen. Er sagte: wenn auch nicht immer Knallerbsen oder Pistolenschüsse fallen, so kommen die Frauen doch oft in die Lage, erschrecken zu müssen. Kindisch ist es, wenn ein Löffel auf die Erde fällt, darüber so zusammenzuzucken, als wenn ein Haus eingefallen wäre; hier genügt die bloße Bewegung der Verwunderung, ein leises Zucken mit den Augenwimpern. Nun zählte er ihr eine allmählige Steigerung von Schreckensvorfällen auf, zeigte ihr, wie sie sich </p> </div> </body> </text> </TEI> [460/0488]
Wie? wollte ich durch’s Schlüsselloch rufen, Sie, elender Komödiant, nicht einmal an Anstand und Sitte, an ihre Eltern und Anverwandten? Nein, antwortete der Mensch, als hätte er meine Stimme oder auch die seines Gewissens gehört, die Schönheit des Benehmens besteht in der Voraussetzung, zunächst nichts als Luft um sich herum zu haben, der menschliche Körper trägt sich selbst, und gerade in der Kunst, seinen Schwerpunkt da oder dorthin zu werfen, besteht das Charakteristische der plastischen Attitüden. Nun fing er an, Lettice zuerst zu zeigen, wie man mit Grazie stillsteht. Er schrieb ihr dabei ein gewisses Wiegen des Oberkörpers vor, wobei jedoch der Unterkörper ruhen mußte. Nachdem sie dieß begriffen hatte, sagte er: das nächste Stadium wäre nun, aus der Ruhe plötzlich aufgeschreckt zu werden; wie er dieß gesagt hatte, drückte er eine Knallerbse los, worüber ich selbst so erschrack, daß ich den Schreck meiner Nichte nicht sehen konnte. Der Gauner rief aber: Bravo! und korrigirte nur, zu der Natur müßte nun noch etwas Kunst kommen. Er sagte: wenn auch nicht immer Knallerbsen oder Pistolenschüsse fallen, so kommen die Frauen doch oft in die Lage, erschrecken zu müssen. Kindisch ist es, wenn ein Löffel auf die Erde fällt, darüber so zusammenzuzucken, als wenn ein Haus eingefallen wäre; hier genügt die bloße Bewegung der Verwunderung, ein leises Zucken mit den Augenwimpern. Nun zählte er ihr eine allmählige Steigerung von Schreckensvorfällen auf, zeigte ihr, wie sie sich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2013-09-13T12:39:16Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2013-09-13T12:39:16Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |