Gutzkow, Karl: Die neuen Serapionsbrüder. Bd. 2. Breslau, 1877.Martha sang einem Kanarienvogel der Commerzienräthin, den die nach Dresden gezogene Tante Dora zu verpflegen sich geweigert hatte: Vöglein, Vöglein, laß es gehn! Sie reichte in ihrem eben nicht großen Zimmer dem Sänger Wasser und Futter. Wohl hätte der in ein schmetterndes Schlagen ausbrechende Vogel zahllose Scenen berichten können, die er mit seinem Gesange überschrieen hatte. Auch in Martha war die Erinnerung ruhiger geworden. Je entfernter in die Zeit hinaus die Ausbrüche der Leidenschaft rücken, desto mehr gestalten sie sich zu Unbegreiflichkeiten. Leider konnten die Gefühle der Unbehaglichkeit im Hause selbst nicht aufhören. Frau Jenny Rabe hatte Marthas Einzug verlangt, aber nun sie da war, änderte sich ihr Hochmuth keineswegs und ihr Haß wegen Wolny schürte ewig das Feuer des Neides und der Rache. Sie spionirte auf die Briefe, die für Martha ankamen. Zum Hoch- und Uebermuth stellten sich beim Assessor die schrecklichsten Erscheinungen der Rückenmarkskrankheit ein, dazu Anfälle von tobsüchtigem Pessimismus, Eruptionen seines nie ruhenden Martha sang einem Kanarienvogel der Commerzienräthin, den die nach Dresden gezogene Tante Dora zu verpflegen sich geweigert hatte: Vöglein, Vöglein, laß es gehn! Sie reichte in ihrem eben nicht großen Zimmer dem Sänger Wasser und Futter. Wohl hätte der in ein schmetterndes Schlagen ausbrechende Vogel zahllose Scenen berichten können, die er mit seinem Gesange überschrieen hatte. Auch in Martha war die Erinnerung ruhiger geworden. Je entfernter in die Zeit hinaus die Ausbrüche der Leidenschaft rücken, desto mehr gestalten sie sich zu Unbegreiflichkeiten. Leider konnten die Gefühle der Unbehaglichkeit im Hause selbst nicht aufhören. Frau Jenny Rabe hatte Marthas Einzug verlangt, aber nun sie da war, änderte sich ihr Hochmuth keineswegs und ihr Haß wegen Wolny schürte ewig das Feuer des Neides und der Rache. Sie spionirte auf die Briefe, die für Martha ankamen. Zum Hoch- und Uebermuth stellten sich beim Assessor die schrecklichsten Erscheinungen der Rückenmarkskrankheit ein, dazu Anfälle von tobsüchtigem Pessimismus, Eruptionen seines nie ruhenden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0131" n="125"/> <p> Martha sang einem Kanarienvogel der Commerzienräthin, den die nach Dresden gezogene Tante Dora zu verpflegen sich geweigert hatte:</p> <p><ref xml:id="TEXTVoegleinBISgehn" type="editorialNote" target="NSer3E.htm#ERLVoegleinBISgehn">Vöglein, Vöglein, laß es gehn! </ref><lb/> Heut wie gestern, heut wie morgen!<lb/> Bist im Kerker wohlgeborgen!<lb/> Ob auch mild die Lüfte wehn,<lb/> Deine Schwingen aufwärts stehn,<lb/> Fühlst ja hier auch für Dich sorgen!</p> <p>Sie reichte in ihrem eben nicht großen Zimmer dem Sänger Wasser und Futter. Wohl hätte der in ein schmetterndes Schlagen ausbrechende Vogel zahllose Scenen berichten können, die er mit seinem Gesange überschrieen hatte. Auch in Martha war die Erinnerung ruhiger geworden. Je entfernter in die Zeit hinaus die Ausbrüche der Leidenschaft rücken, desto mehr gestalten sie sich zu Unbegreiflichkeiten. Leider konnten die Gefühle der Unbehaglichkeit im Hause selbst nicht aufhören. Frau Jenny Rabe hatte Marthas Einzug verlangt, aber nun sie da war, änderte sich ihr Hochmuth keineswegs und ihr Haß wegen Wolny schürte ewig das Feuer des Neides und der Rache. Sie spionirte auf die Briefe, die für Martha ankamen. Zum Hoch- und Uebermuth stellten sich beim Assessor die schrecklichsten Erscheinungen der <ref xml:id="TEXTRueckenmarkskrankheit" type="editorialNote" target="NSer3E.htm#ERLRueckenmarkskrankheit">Rückenmarkskrankheit</ref> ein, dazu <ref xml:id="TEXTAnfaelleBISPessimismus" type="editorialNote" target="NSer3E.htm#ERLAnfaelleBISPessimismus">Anfälle von tobsüchtigem Pessimismus</ref>, Eruptionen seines nie ruhenden </p> </div> </body> </text> </TEI> [125/0131]
Martha sang einem Kanarienvogel der Commerzienräthin, den die nach Dresden gezogene Tante Dora zu verpflegen sich geweigert hatte:
Vöglein, Vöglein, laß es gehn!
Heut wie gestern, heut wie morgen!
Bist im Kerker wohlgeborgen!
Ob auch mild die Lüfte wehn,
Deine Schwingen aufwärts stehn,
Fühlst ja hier auch für Dich sorgen!
Sie reichte in ihrem eben nicht großen Zimmer dem Sänger Wasser und Futter. Wohl hätte der in ein schmetterndes Schlagen ausbrechende Vogel zahllose Scenen berichten können, die er mit seinem Gesange überschrieen hatte. Auch in Martha war die Erinnerung ruhiger geworden. Je entfernter in die Zeit hinaus die Ausbrüche der Leidenschaft rücken, desto mehr gestalten sie sich zu Unbegreiflichkeiten. Leider konnten die Gefühle der Unbehaglichkeit im Hause selbst nicht aufhören. Frau Jenny Rabe hatte Marthas Einzug verlangt, aber nun sie da war, änderte sich ihr Hochmuth keineswegs und ihr Haß wegen Wolny schürte ewig das Feuer des Neides und der Rache. Sie spionirte auf die Briefe, die für Martha ankamen. Zum Hoch- und Uebermuth stellten sich beim Assessor die schrecklichsten Erscheinungen der Rückenmarkskrankheit ein, dazu Anfälle von tobsüchtigem Pessimismus, Eruptionen seines nie ruhenden
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die neuen Serapionsbrüder. Bd. 2. Breslau, 1877, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_serapionsbrueder02_1877/131>, abgerufen am 16.02.2025. |