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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

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und dem europäischen insbesondere.
zusammen. Waren sie gleich von der Natur selbst hierzu
nicht gezwungen a]; so machten doch die, mit den Fort-
schritten der Weichlichkeit und Ausbildung, immer zu-
nehmenden wechselseitigen Bedürfnisse und das Verlan-
gen nach einem volkomnern Glücke überhaupt, eine en-
gere Vereinigung unter ihnen nothwendig. Natürlicher-
weise waren die Vorschriften der einfachen Natur nun
nicht mehr hinreichend: man muste solche einigermaßen
abändern und den geselschaftlichen Verbindungen anpas-
sen. Statt daß ieder einzelne Mensch, iedes Volk,
sonst nur mit seinem eignen Wohl sich beschäftigte, wa-
ren sie itzt auch auf die gemeinschaftliche Wohlfahrt,
Ruhe und Sicherheit zu denken, und, was sie ohne ihren
eignen Nachtheil konnten, dazu beizutragen genöthigt.
Daher entstand, meinem Urteile nach, unter Nazionen
das vom Grotius, Wolf, Vattel und Andern sogenante
freiwillige Völkerrecht, [ius gentium voluntarium b]
nicht arbitrarium] welches nicht ursprünglich in der Na-
tur, sondern [secundarium] in den Begriffen einer Ge-
sellschaft, worein die Völker freiwillig in der Folge sich
begaben, seinen Grund hat. Es ist gleichsam das na-
türliche Geselschaftsrecht der Völker, oder das auf die
Völkergeselschaft angewandte Naturrecht [Jus sociale
naturale gentium, Jus naturale societatis gentium, Jus
naturale ad societatem gentium applicatum
]. Man zählt
dahin gewöhnlich den Nichtgebrauch vergifteter Waffen,
die Annahme und Unverletzlichkeit der Gesandten u. s. w.

a] Henr. de Cocceji Prodromus justitiae gentium, s. ex-
ercitationes duae, quarum Ima socialitatem Gratianam
principium neque essendi neque cognoscendi esse, evin-
cit etc. Frcf. ad Viadr.
1719. 4.
Sam. L. B. de Cocceji de jure naturae sociali diß. prooem.
I. Introd. ad Henr. de Cocceji Grotium illustr. Sect. II.
§. 24. seqq.
b]
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und dem europaͤiſchen insbeſondere.
zuſammen. Waren ſie gleich von der Natur ſelbſt hierzu
nicht gezwungen a]; ſo machten doch die, mit den Fort-
ſchritten der Weichlichkeit und Ausbildung, immer zu-
nehmenden wechſelſeitigen Beduͤrfniſſe und das Verlan-
gen nach einem volkomnern Gluͤcke uͤberhaupt, eine en-
gere Vereinigung unter ihnen nothwendig. Natuͤrlicher-
weiſe waren die Vorſchriften der einfachen Natur nun
nicht mehr hinreichend: man muſte ſolche einigermaßen
abaͤndern und den geſelſchaftlichen Verbindungen anpaſ-
ſen. Statt daß ieder einzelne Menſch, iedes Volk,
ſonſt nur mit ſeinem eignen Wohl ſich beſchaͤftigte, wa-
ren ſie itzt auch auf die gemeinſchaftliche Wohlfahrt,
Ruhe und Sicherheit zu denken, und, was ſie ohne ihren
eignen Nachtheil konnten, dazu beizutragen genoͤthigt.
Daher entſtand, meinem Urteile nach, unter Nazionen
das vom Grotius, Wolf, Vattel und Andern ſogenante
freiwillige Voͤlkerrecht, [ius gentium voluntarium b]
nicht arbitrarium] welches nicht urſpruͤnglich in der Na-
tur, ſondern [ſecundarium] in den Begriffen einer Ge-
ſellſchaft, worein die Voͤlker freiwillig in der Folge ſich
begaben, ſeinen Grund hat. Es iſt gleichſam das na-
tuͤrliche Geſelſchaftsrecht der Voͤlker, oder das auf die
Voͤlkergeſelſchaft angewandte Naturrecht [Jus ſociale
naturale gentium, Jus naturale ſocietatis gentium, Jus
naturale ad ſocietatem gentium applicatum
]. Man zaͤhlt
dahin gewoͤhnlich den Nichtgebrauch vergifteter Waffen,
die Annahme und Unverletzlichkeit der Geſandten u. ſ. w.

a] Henr. de Cocceji Prodromus juſtitiae gentium, ſ. ex-
ercitationes duae, quarum Ima ſocialitatem Gratianam
principium neque eſſendi neque cognoſcendi eſſe, evin-
cit etc. Frcf. ad Viadr.
1719. 4.
Sam. L. B. de Cocceji de jure naturae ſociali diß. prooem.
I. Introd. ad Henr. de Cocceji Grotium illuſtr. Sect. II.
§. 24. ſeqq.
b]
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Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/31>, abgerufen am 04.05.2024.