Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

der Nazionen.
Unvollkommenheit verschiedene Deutungen zulassen; so
ist es ausgemacht, und durch die Erfahrung bestättigt,
daß die nachfolgenden critischen und politischen Umstände
den buchstäblichen in figürlichen Sinn der Worte drehen
können, und dieser sich nach ienen richten muß. Die
neue Auslegung wird durch das neue Interesse bestimmt
und hiermit sind alle Tractaten untersiegelt. Da nun
[S. 194.] die Weltbeherscher keine Obrigkeit über sich
erkennen, folglich ohne die freiwilligen Verträge nicht
anders als durch selbst erwählte Schiedsrichter friedlich
und billig auseinander kommen können; so gleicht, um die
Zwistigkeiten und Beschwerden der Potentaten unter ein-
ander auf eine so gerechte als friedsame auch geschwinde
und unfehlbare Weise abzustellen, nichts einem unpar-
theiischen, klugen, gelehrten, beständigen und gültigen
Schieds- oder Friedensgerichte. Ein seichter Einwurf,
daß die unabhängigen Mächte in einem freien natürlichen
Zustande sind und keinen Richter über sich erkennen.
Selbst die Beispiele des bürgerlichen Zustandes erweisen,
daß die Partheien nicht die Richter, die oft viel geringer
als iene sind, sondern blos die Gesetze über sich erkennen.
Die Ursachen des Krieges würden also wegfallen, wenn
der natürliche Zustand weniger unumschränkt, und das
Völkerrecht so vollkommen und den Fürsten so verbindlich
wäre, als ihren Unterthanen das bürgerliche Recht ist.
Zu diesem Ende müsten alle Potentaten, durch eine freie
und einmüthige Einstimmung, auf einem algemeinen
Kongres, für sich und alle folgende Zeiten feierlichst ein
höchstes Nazionen Tribunal und Friedensgerecht nie-
dersetzen und anerkennen. Das hierüber ausgefertigte
Instrument, das die Kraft und Natur eines ewigen
Compromisses und Fundamentalgesetzes aller Reiche an
sich hätte, und wozu ein ieder Landesherr und seine Unter-
thanen, beim Antritt einer ieglichen neuen Regierung
sich verpflichteten, würde im Tribunalarchive aufbehalten

Da-

der Nazionen.
Unvollkommenheit verſchiedene Deutungen zulaſſen; ſo
iſt es ausgemacht, und durch die Erfahrung beſtaͤttigt,
daß die nachfolgenden critiſchen und politiſchen Umſtaͤnde
den buchſtaͤblichen in figuͤrlichen Sinn der Worte drehen
koͤnnen, und dieſer ſich nach ienen richten muß. Die
neue Auslegung wird durch das neue Intereſſe beſtimmt
und hiermit ſind alle Tractaten unterſiegelt. Da nun
[S. 194.] die Weltbeherſcher keine Obrigkeit uͤber ſich
erkennen, folglich ohne die freiwilligen Vertraͤge nicht
anders als durch ſelbſt erwaͤhlte Schiedsrichter friedlich
und billig auseinander kommen koͤnnen; ſo gleicht, um die
Zwiſtigkeiten und Beſchwerden der Potentaten unter ein-
ander auf eine ſo gerechte als friedſame auch geſchwinde
und unfehlbare Weiſe abzuſtellen, nichts einem unpar-
theiiſchen, klugen, gelehrten, beſtaͤndigen und guͤltigen
Schieds- oder Friedensgerichte. Ein ſeichter Einwurf,
daß die unabhaͤngigen Maͤchte in einem freien natuͤrlichen
Zuſtande ſind und keinen Richter uͤber ſich erkennen.
Selbſt die Beiſpiele des buͤrgerlichen Zuſtandes erweiſen,
daß die Partheien nicht die Richter, die oft viel geringer
als iene ſind, ſondern blos die Geſetze uͤber ſich erkennen.
Die Urſachen des Krieges wuͤrden alſo wegfallen, wenn
der natuͤrliche Zuſtand weniger unumſchraͤnkt, und das
Voͤlkerrecht ſo vollkommen und den Fuͤrſten ſo verbindlich
waͤre, als ihren Unterthanen das buͤrgerliche Recht iſt.
Zu dieſem Ende muͤſten alle Potentaten, durch eine freie
und einmuͤthige Einſtimmung, auf einem algemeinen
Kongres, fuͤr ſich und alle folgende Zeiten feierlichſt ein
hoͤchſtes Nazionen Tribunal und Friedensgerecht nie-
derſetzen und anerkennen. Das hieruͤber ausgefertigte
Inſtrument, das die Kraft und Natur eines ewigen
Compromiſſes und Fundamentalgeſetzes aller Reiche an
ſich haͤtte, und wozu ein ieder Landesherr und ſeine Unter-
thanen, beim Antritt einer ieglichen neuen Regierung
ſich verpflichteten, wuͤrde im Tribunalarchive aufbehalten

Da-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0217" n="191"/><fw place="top" type="header">der Nazionen.</fw><lb/>
Unvollkommenheit ver&#x017F;chiedene Deutungen zula&#x017F;&#x017F;en; &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t es ausgemacht, und durch die Erfahrung be&#x017F;ta&#x0364;ttigt,<lb/>
daß die nachfolgenden criti&#x017F;chen und politi&#x017F;chen Um&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
den buch&#x017F;ta&#x0364;blichen in figu&#x0364;rlichen Sinn der Worte drehen<lb/>
ko&#x0364;nnen, und die&#x017F;er &#x017F;ich nach ienen richten muß. Die<lb/>
neue Auslegung wird durch das neue Intere&#x017F;&#x017F;e be&#x017F;timmt<lb/>
und hiermit &#x017F;ind alle Tractaten unter&#x017F;iegelt. Da nun<lb/>
[S. 194.] die Weltbeher&#x017F;cher keine Obrigkeit u&#x0364;ber &#x017F;ich<lb/>
erkennen, folglich ohne die freiwilligen Vertra&#x0364;ge nicht<lb/>
anders als durch &#x017F;elb&#x017F;t erwa&#x0364;hlte Schiedsrichter friedlich<lb/>
und billig auseinander kommen ko&#x0364;nnen; &#x017F;o gleicht, um die<lb/>
Zwi&#x017F;tigkeiten und Be&#x017F;chwerden der Potentaten unter ein-<lb/>
ander auf eine &#x017F;o gerechte als fried&#x017F;ame auch ge&#x017F;chwinde<lb/>
und unfehlbare Wei&#x017F;e abzu&#x017F;tellen, nichts einem unpar-<lb/>
theii&#x017F;chen, klugen, gelehrten, be&#x017F;ta&#x0364;ndigen und gu&#x0364;ltigen<lb/><hi rendition="#fr">Schieds</hi>- oder <hi rendition="#fr">Friedensgerichte</hi>. Ein &#x017F;eichter Einwurf,<lb/>
daß die unabha&#x0364;ngigen Ma&#x0364;chte in einem freien natu&#x0364;rlichen<lb/>
Zu&#x017F;tande &#x017F;ind und keinen Richter u&#x0364;ber &#x017F;ich erkennen.<lb/>
Selb&#x017F;t die Bei&#x017F;piele des bu&#x0364;rgerlichen Zu&#x017F;tandes erwei&#x017F;en,<lb/>
daß die Partheien nicht die Richter, die oft viel geringer<lb/>
als iene &#x017F;ind, &#x017F;ondern blos die Ge&#x017F;etze u&#x0364;ber &#x017F;ich erkennen.<lb/>
Die Ur&#x017F;achen des Krieges wu&#x0364;rden al&#x017F;o wegfallen, wenn<lb/>
der natu&#x0364;rliche Zu&#x017F;tand weniger unum&#x017F;chra&#x0364;nkt, und das<lb/>
Vo&#x0364;lkerrecht &#x017F;o vollkommen und den Fu&#x0364;r&#x017F;ten &#x017F;o verbindlich<lb/>
wa&#x0364;re, als ihren Unterthanen das bu&#x0364;rgerliche Recht i&#x017F;t.<lb/>
Zu die&#x017F;em Ende mu&#x0364;&#x017F;ten alle Potentaten, durch eine freie<lb/>
und einmu&#x0364;thige Ein&#x017F;timmung, auf einem algemeinen<lb/>
Kongres, fu&#x0364;r &#x017F;ich und alle folgende Zeiten feierlich&#x017F;t ein<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;tes <hi rendition="#fr">Nazionen Tribunal</hi> und Friedensgerecht nie-<lb/>
der&#x017F;etzen und anerkennen. Das hieru&#x0364;ber ausgefertigte<lb/>
In&#x017F;trument, das die Kraft und Natur eines ewigen<lb/>
Compromi&#x017F;&#x017F;es und Fundamentalge&#x017F;etzes aller Reiche an<lb/>
&#x017F;ich ha&#x0364;tte, und wozu ein ieder Landesherr und &#x017F;eine Unter-<lb/>
thanen, beim Antritt einer ieglichen neuen Regierung<lb/>
&#x017F;ich verpflichteten, wu&#x0364;rde im Tribunalarchive aufbehalten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Da-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0217] der Nazionen. Unvollkommenheit verſchiedene Deutungen zulaſſen; ſo iſt es ausgemacht, und durch die Erfahrung beſtaͤttigt, daß die nachfolgenden critiſchen und politiſchen Umſtaͤnde den buchſtaͤblichen in figuͤrlichen Sinn der Worte drehen koͤnnen, und dieſer ſich nach ienen richten muß. Die neue Auslegung wird durch das neue Intereſſe beſtimmt und hiermit ſind alle Tractaten unterſiegelt. Da nun [S. 194.] die Weltbeherſcher keine Obrigkeit uͤber ſich erkennen, folglich ohne die freiwilligen Vertraͤge nicht anders als durch ſelbſt erwaͤhlte Schiedsrichter friedlich und billig auseinander kommen koͤnnen; ſo gleicht, um die Zwiſtigkeiten und Beſchwerden der Potentaten unter ein- ander auf eine ſo gerechte als friedſame auch geſchwinde und unfehlbare Weiſe abzuſtellen, nichts einem unpar- theiiſchen, klugen, gelehrten, beſtaͤndigen und guͤltigen Schieds- oder Friedensgerichte. Ein ſeichter Einwurf, daß die unabhaͤngigen Maͤchte in einem freien natuͤrlichen Zuſtande ſind und keinen Richter uͤber ſich erkennen. Selbſt die Beiſpiele des buͤrgerlichen Zuſtandes erweiſen, daß die Partheien nicht die Richter, die oft viel geringer als iene ſind, ſondern blos die Geſetze uͤber ſich erkennen. Die Urſachen des Krieges wuͤrden alſo wegfallen, wenn der natuͤrliche Zuſtand weniger unumſchraͤnkt, und das Voͤlkerrecht ſo vollkommen und den Fuͤrſten ſo verbindlich waͤre, als ihren Unterthanen das buͤrgerliche Recht iſt. Zu dieſem Ende muͤſten alle Potentaten, durch eine freie und einmuͤthige Einſtimmung, auf einem algemeinen Kongres, fuͤr ſich und alle folgende Zeiten feierlichſt ein hoͤchſtes Nazionen Tribunal und Friedensgerecht nie- derſetzen und anerkennen. Das hieruͤber ausgefertigte Inſtrument, das die Kraft und Natur eines ewigen Compromiſſes und Fundamentalgeſetzes aller Reiche an ſich haͤtte, und wozu ein ieder Landesherr und ſeine Unter- thanen, beim Antritt einer ieglichen neuen Regierung ſich verpflichteten, wuͤrde im Tribunalarchive aufbehalten Da-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/217
Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/217>, abgerufen am 21.11.2024.