Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

Also nahmen beide von einander betrübten
Abschied, das Läppchen steckte die Königstochter
in ihren Busen vor sich, setzte sich auf's Pferd
und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie
eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen
Durst und rief ihrer Kammerjungfer: steig ab
und schöpfe mir mit meinem Becher, den du auf-
zuheben hast, Wasser aus dem Bach, ich möchte
gern einmal trinken. "Ei, wenn ihr Durst habt,
sprach die Kammerjungfer, so steigt selber ab, legt
euch an's Wasser und trinkt, ich mag eure Magd
nicht seyn!" Da stieg die Königstochter vor
großem Durst herunter, neigte sich über das Wäs-
serlein im Bach und trank und durfte nicht aus
dem goldnen Becher trinken. Da sprach sie: "ach
Gott!" da antworteten die drei Blutstropfen:
"wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im
Leibe thät ihr zerspringen." Aber die Königs-
braut war gar demüthig, sagte nichts und stieg
wieder zu Pferd. So ritten sie etliche Meilen
weiter fort und der Tag war warm, daß die
Sonne stach und sie durstete bald von neuem; da
sie nun an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch
einmal ihrer Kammerjungfer: "steig ab und gieb
mir aus meinem Goldbecher zu trinken!" denn
sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die
Kammerjungfer sprach aber noch hochmüthiger:
wollt' ihr trinken, so trinkt allein, ich mag nicht
eure Magd seyn." Da stieg die Königstochter

Kindermärchen. II. B

Alſo nahmen beide von einander betruͤbten
Abſchied, das Laͤppchen ſteckte die Koͤnigstochter
in ihren Buſen vor ſich, ſetzte ſich auf’s Pferd
und zog nun fort zu ihrem Braͤutigam. Da ſie
eine Stunde geritten waren, empfand ſie heißen
Durſt und rief ihrer Kammerjungfer: ſteig ab
und ſchoͤpfe mir mit meinem Becher, den du auf-
zuheben haſt, Waſſer aus dem Bach, ich moͤchte
gern einmal trinken. „Ei, wenn ihr Durſt habt,
ſprach die Kammerjungfer, ſo ſteigt ſelber ab, legt
euch an’s Waſſer und trinkt, ich mag eure Magd
nicht ſeyn!“ Da ſtieg die Koͤnigstochter vor
großem Durſt herunter, neigte ſich uͤber das Waͤſ-
ſerlein im Bach und trank und durfte nicht aus
dem goldnen Becher trinken. Da ſprach ſie: „ach
Gott!“ da antworteten die drei Blutstropfen:
„wenn das deine Mutter wuͤßte, das Herz im
Leibe thaͤt ihr zerſpringen.“ Aber die Koͤnigs-
braut war gar demuͤthig, ſagte nichts und ſtieg
wieder zu Pferd. So ritten ſie etliche Meilen
weiter fort und der Tag war warm, daß die
Sonne ſtach und ſie durſtete bald von neuem; da
ſie nun an einen Waſſerfluß kamen, rief ſie noch
einmal ihrer Kammerjungfer: „ſteig ab und gieb
mir aus meinem Goldbecher zu trinken!“ denn
ſie hatte aller boͤſen Worte laͤngſt vergeſſen. Die
Kammerjungfer ſprach aber noch hochmuͤthiger:
wollt’ ihr trinken, ſo trinkt allein, ich mag nicht
eure Magd ſeyn.“ Da ſtieg die Koͤnigstochter

Kindermärchen. II. B
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0038" n="17"/>
        <p>Al&#x017F;o nahmen beide von einander betru&#x0364;bten<lb/>
Ab&#x017F;chied, das La&#x0364;ppchen &#x017F;teckte die Ko&#x0364;nigstochter<lb/>
in ihren Bu&#x017F;en vor &#x017F;ich, &#x017F;etzte &#x017F;ich auf&#x2019;s Pferd<lb/>
und zog nun fort zu ihrem Bra&#x0364;utigam. Da &#x017F;ie<lb/>
eine Stunde geritten waren, empfand &#x017F;ie heißen<lb/>
Dur&#x017F;t und rief ihrer Kammerjungfer: &#x017F;teig ab<lb/>
und &#x017F;cho&#x0364;pfe mir mit meinem Becher, den du auf-<lb/>
zuheben ha&#x017F;t, Wa&#x017F;&#x017F;er aus dem Bach, ich mo&#x0364;chte<lb/>
gern einmal trinken. &#x201E;Ei, wenn ihr Dur&#x017F;t habt,<lb/>
&#x017F;prach die Kammerjungfer, &#x017F;o &#x017F;teigt &#x017F;elber ab, legt<lb/>
euch an&#x2019;s Wa&#x017F;&#x017F;er und trinkt, ich mag eure Magd<lb/>
nicht &#x017F;eyn!&#x201C; Da &#x017F;tieg die Ko&#x0364;nigstochter vor<lb/>
großem Dur&#x017F;t herunter, neigte &#x017F;ich u&#x0364;ber das Wa&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erlein im Bach und trank und durfte nicht aus<lb/>
dem goldnen Becher trinken. Da &#x017F;prach &#x017F;ie: &#x201E;ach<lb/>
Gott!&#x201C; da antworteten die drei Blutstropfen:<lb/>
&#x201E;wenn das deine Mutter wu&#x0364;ßte, das Herz im<lb/>
Leibe tha&#x0364;t ihr zer&#x017F;pringen.&#x201C; Aber die Ko&#x0364;nigs-<lb/>
braut war gar demu&#x0364;thig, &#x017F;agte nichts und &#x017F;tieg<lb/>
wieder zu Pferd. So ritten &#x017F;ie etliche Meilen<lb/>
weiter fort und der Tag war warm, daß die<lb/>
Sonne &#x017F;tach und &#x017F;ie dur&#x017F;tete bald von neuem; da<lb/>
&#x017F;ie nun an einen Wa&#x017F;&#x017F;erfluß kamen, rief &#x017F;ie noch<lb/>
einmal ihrer Kammerjungfer: &#x201E;&#x017F;teig ab und gieb<lb/>
mir aus meinem Goldbecher zu trinken!&#x201C; denn<lb/>
&#x017F;ie hatte aller bo&#x0364;&#x017F;en Worte la&#x0364;ng&#x017F;t verge&#x017F;&#x017F;en. Die<lb/>
Kammerjungfer &#x017F;prach aber noch hochmu&#x0364;thiger:<lb/>
wollt&#x2019; ihr trinken, &#x017F;o trinkt allein, ich mag nicht<lb/>
eure Magd &#x017F;eyn.&#x201C; Da &#x017F;tieg die Ko&#x0364;nigstochter<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Kindermärchen. <hi rendition="#aq">II.</hi> B</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0038] Alſo nahmen beide von einander betruͤbten Abſchied, das Laͤppchen ſteckte die Koͤnigstochter in ihren Buſen vor ſich, ſetzte ſich auf’s Pferd und zog nun fort zu ihrem Braͤutigam. Da ſie eine Stunde geritten waren, empfand ſie heißen Durſt und rief ihrer Kammerjungfer: ſteig ab und ſchoͤpfe mir mit meinem Becher, den du auf- zuheben haſt, Waſſer aus dem Bach, ich moͤchte gern einmal trinken. „Ei, wenn ihr Durſt habt, ſprach die Kammerjungfer, ſo ſteigt ſelber ab, legt euch an’s Waſſer und trinkt, ich mag eure Magd nicht ſeyn!“ Da ſtieg die Koͤnigstochter vor großem Durſt herunter, neigte ſich uͤber das Waͤſ- ſerlein im Bach und trank und durfte nicht aus dem goldnen Becher trinken. Da ſprach ſie: „ach Gott!“ da antworteten die drei Blutstropfen: „wenn das deine Mutter wuͤßte, das Herz im Leibe thaͤt ihr zerſpringen.“ Aber die Koͤnigs- braut war gar demuͤthig, ſagte nichts und ſtieg wieder zu Pferd. So ritten ſie etliche Meilen weiter fort und der Tag war warm, daß die Sonne ſtach und ſie durſtete bald von neuem; da ſie nun an einen Waſſerfluß kamen, rief ſie noch einmal ihrer Kammerjungfer: „ſteig ab und gieb mir aus meinem Goldbecher zu trinken!“ denn ſie hatte aller boͤſen Worte laͤngſt vergeſſen. Die Kammerjungfer ſprach aber noch hochmuͤthiger: wollt’ ihr trinken, ſo trinkt allein, ich mag nicht eure Magd ſeyn.“ Da ſtieg die Koͤnigstochter Kindermärchen. II. B

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/38
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/38>, abgerufen am 08.10.2024.