Viehmännin, hat ein festes und angenehmes Gesicht, blickt hell und scharf aus den Augen, und ist wahrscheinlich in ihrer Jugend schön gewesen. Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtniß, welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehen sey und mancher gar nichts behalten könne; dabei erzählt sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschrei- ben kann. Manches ist auf diese Weise wört- lich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen seyn. Wer an leichte Ver- fälschung der Ueberlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung, und daher an Unmöglich- keit langer Dauer, als Regel glaubt, der müßte hören, wie genau sie immer bei dersel- ben Erzählung bleibt und auf ihre Richtigkeit eifrig ist; niemals ändert sie bei einer Wieder- holung etwas in der Sache ab, und bessert ein Versehen, sobald sie es bemerkt, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Ueberlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren,
Viehmaͤnnin, hat ein feſtes und angenehmes Geſicht, blickt hell und ſcharf aus den Augen, und iſt wahrſcheinlich in ihrer Jugend ſchoͤn geweſen. Sie bewahrt dieſe alten Sagen feſt in dem Gedaͤchtniß, welche Gabe, wie ſie ſagt, nicht jedem verliehen ſey und mancher gar nichts behalten koͤnne; dabei erzaͤhlt ſie bedaͤchtig, ſicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erſt ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langſam, ſo daß man ihr mit einiger Uebung nachſchrei- ben kann. Manches iſt auf dieſe Weiſe woͤrt- lich beibehalten, und wird in ſeiner Wahrheit nicht zu verkennen ſeyn. Wer an leichte Ver- faͤlſchung der Ueberlieferung, Nachlaͤſſigkeit bei Aufbewahrung, und daher an Unmoͤglich- keit langer Dauer, als Regel glaubt, der muͤßte hoͤren, wie genau ſie immer bei derſel- ben Erzaͤhlung bleibt und auf ihre Richtigkeit eifrig iſt; niemals aͤndert ſie bei einer Wieder- holung etwas in der Sache ab, und beſſert ein Verſehen, ſobald ſie es bemerkt, mitten in der Rede gleich ſelber. Die Anhaͤnglichkeit an das Ueberlieferte iſt bei Menſchen, die in gleicher Lebensart unabaͤnderlich fortfahren,
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[V/0010]
Viehmaͤnnin, hat ein feſtes und angenehmes
Geſicht, blickt hell und ſcharf aus den Augen,
und iſt wahrſcheinlich in ihrer Jugend ſchoͤn
geweſen. Sie bewahrt dieſe alten Sagen feſt
in dem Gedaͤchtniß, welche Gabe, wie ſie
ſagt, nicht jedem verliehen ſey und mancher
gar nichts behalten koͤnne; dabei erzaͤhlt ſie
bedaͤchtig, ſicher und ungemein lebendig mit
eigenem Wohlgefallen daran, erſt ganz frei,
dann, wenn man will, noch einmal langſam,
ſo daß man ihr mit einiger Uebung nachſchrei-
ben kann. Manches iſt auf dieſe Weiſe woͤrt-
lich beibehalten, und wird in ſeiner Wahrheit
nicht zu verkennen ſeyn. Wer an leichte Ver-
faͤlſchung der Ueberlieferung, Nachlaͤſſigkeit
bei Aufbewahrung, und daher an Unmoͤglich-
keit langer Dauer, als Regel glaubt, der
muͤßte hoͤren, wie genau ſie immer bei derſel-
ben Erzaͤhlung bleibt und auf ihre Richtigkeit
eifrig iſt; niemals aͤndert ſie bei einer Wieder-
holung etwas in der Sache ab, und beſſert
ein Verſehen, ſobald ſie es bemerkt, mitten
in der Rede gleich ſelber. Die Anhaͤnglichkeit
an das Ueberlieferte iſt bei Menſchen, die in
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/10>, abgerufen am 03.10.2024.
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