Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief

'Rapunzel, Rapunzel,
laß mir dein Haar herunter.'

Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhacken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.

Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt, und an dem Thurm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt, und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn suchte vergeblich nach einer Thüre des Thurms, der Gesang hatte ihm aber so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald gieng und darauf horchte. Als er einmal so hinter einem Baume stand, sah er die Zauberin herankommen, und hörte wie sie hinauf rief

'Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter.'

Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. 'Jst das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt,' sprach der Königssohn, 'so will ich auch einmal mein Glück versuchen.' Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme, und rief

nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief

‘Rapunzel, Rapunzel,
laß mir dein Haar herunter.’

Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhacken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.

Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt, und an dem Thurm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt, und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn suchte vergeblich nach einer Thüre des Thurms, der Gesang hatte ihm aber so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald gieng und darauf horchte. Als er einmal so hinter einem Baume stand, sah er die Zauberin herankommen, und hörte wie sie hinauf rief

‘Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter.’

Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. ‘Jst das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt,’ sprach der Königssohn, ‘so will ich auch einmal mein Glück versuchen.’ Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme, und rief

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0127" n="78"/>
nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Rapunzel, Rapunzel,</l><lb/>
          <l>laß mir dein Haar herunter.&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhacken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.</p><lb/>
        <p>Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt, und an dem Thurm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt, und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn suchte vergeblich nach einer Thüre des Thurms, der Gesang hatte ihm aber so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald gieng und darauf horchte. Als er einmal so hinter einem Baume stand, sah er die Zauberin herankommen, und hörte wie sie hinauf rief</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Rapunzel, Rapunzel,</l><lb/>
          <l>laß dein Haar herunter.&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. &#x2018;Jst das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt,&#x2019; sprach der Königssohn, &#x2018;so will ich auch einmal mein Glück versuchen.&#x2019; Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme, und rief</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0127] nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief ‘Rapunzel, Rapunzel, laß mir dein Haar herunter.’ Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhacken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf. Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt, und an dem Thurm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt, und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn suchte vergeblich nach einer Thüre des Thurms, der Gesang hatte ihm aber so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald gieng und darauf horchte. Als er einmal so hinter einem Baume stand, sah er die Zauberin herankommen, und hörte wie sie hinauf rief ‘Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter.’ Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. ‘Jst das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt,’ sprach der Königssohn, ‘so will ich auch einmal mein Glück versuchen.’ Und den folgenden Tag, als es anfieng dunkel zu werden, gieng er zu dem Thurme, und rief

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/127
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/127>, abgerufen am 03.05.2024.