Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Jn der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln, und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus, und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt daß sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrack er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. 'Wie kannst du es wagen,' sagte sie zornig, 'in meinen Garten wie ein Dieb zu kommen, und mir meine Rapunzeln zu stehlen?' 'Ach,' antwortete er, 'ungern habe ich mich dazu entschlossen, und nur aus Noth: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und hat ein so großes Gelüsten danach, daß sie sterben würde wenn sie nicht davon zu essen bekäme.' Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach, und sprach zu dem Mann 'verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.' Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien gleich die Zauberin, gab dem Kind den Namen Rapunzel, und nahm es mit sich fort.

Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahr alt war schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte,

Jn der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln, und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus, und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt daß sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrack er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. ‘Wie kannst du es wagen,’ sagte sie zornig, ‘in meinen Garten wie ein Dieb zu kommen, und mir meine Rapunzeln zu stehlen?’ ‘Ach,’ antwortete er, ‘ungern habe ich mich dazu entschlossen, und nur aus Noth: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und hat ein so großes Gelüsten danach, daß sie sterben würde wenn sie nicht davon zu essen bekäme.’ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach, und sprach zu dem Mann ‘verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.’ Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien gleich die Zauberin, gab dem Kind den Namen Rapunzel, und nahm es mit sich fort.

Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahr alt war schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0126" n="77"/>
Jn der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln, und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus, und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt daß sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrack er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. &#x2018;Wie kannst du es wagen,&#x2019; sagte sie zornig, &#x2018;in meinen Garten wie ein Dieb zu kommen, und mir meine Rapunzeln zu stehlen?&#x2019; &#x2018;Ach,&#x2019; antwortete er, &#x2018;ungern habe ich mich dazu entschlossen, und nur aus Noth: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und hat ein so großes Gelüsten danach, daß sie sterben würde wenn sie nicht davon zu essen bekäme.&#x2019; Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach, und sprach zu dem Mann &#x2018;verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.&#x2019; Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien gleich die Zauberin, gab dem Kind den Namen <hi rendition="#g">Rapunzel</hi>, und nahm es mit sich fort.</p><lb/>
        <p>Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahr alt war schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0126] Jn der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln, und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus, und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt daß sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrack er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. ‘Wie kannst du es wagen,’ sagte sie zornig, ‘in meinen Garten wie ein Dieb zu kommen, und mir meine Rapunzeln zu stehlen?’ ‘Ach,’ antwortete er, ‘ungern habe ich mich dazu entschlossen, und nur aus Noth: meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und hat ein so großes Gelüsten danach, daß sie sterben würde wenn sie nicht davon zu essen bekäme.’ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach, und sprach zu dem Mann ‘verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich mache eine Bedingung: du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.’ Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien gleich die Zauberin, gab dem Kind den Namen Rapunzel, und nahm es mit sich fort. Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahr alt war schloß es die Zauberin in einen Thurm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Thüre hatte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/126
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/126>, abgerufen am 24.11.2024.