Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
'Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter.'

Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.

Anfangs erschrack Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fieng an ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah daß er jung und schön war, so dachte sie 'der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,' und sagte ja, und reichte ihm ihre Hand. Sie verabredeten daß er alle Abend zu ihr kommen sollte, aber die Zauberin, die nur bei Tage kam, merkte nichts davon, bis einmal Rapunzel anfieng und zu ihr sagte 'sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen, als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.' 'Ach du gottloses Kind,' rief die Zauberin 'was muß ich von dir hören, so hast du mich doch betrogen!' Und in ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten, und ritsch, ritsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.

Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte,

‘Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter.’

Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.

Anfangs erschrack Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fieng an ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah daß er jung und schön war, so dachte sie ‘der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,’ und sagte ja, und reichte ihm ihre Hand. Sie verabredeten daß er alle Abend zu ihr kommen sollte, aber die Zauberin, die nur bei Tage kam, merkte nichts davon, bis einmal Rapunzel anfieng und zu ihr sagte ‘sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen, als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.’ ‘Ach du gottloses Kind,’ rief die Zauberin ‘was muß ich von dir hören, so hast du mich doch betrogen!’ Und in ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten, und ritsch, ritsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.

Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0128" n="79"/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Rapunzel, Rapunzel,</l><lb/>
          <l>laß dein Haar herunter.&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.</p><lb/>
        <p>Anfangs erschrack Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fieng an ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah daß er jung und schön war, so dachte sie &#x2018;der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,&#x2019; und sagte ja, und reichte ihm ihre Hand. Sie verabredeten daß er alle Abend zu ihr kommen sollte, aber die Zauberin, die nur bei Tage kam, merkte nichts davon, bis einmal Rapunzel anfieng und zu ihr sagte &#x2018;sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen, als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.&#x2019; &#x2018;Ach du gottloses Kind,&#x2019; rief die Zauberin &#x2018;was muß ich von dir hören, so hast du mich doch betrogen!&#x2019; Und in ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten, und ritsch, ritsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.</p><lb/>
        <p>Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0128] ‘Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter.’ Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf. Anfangs erschrack Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fieng an ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah daß er jung und schön war, so dachte sie ‘der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,’ und sagte ja, und reichte ihm ihre Hand. Sie verabredeten daß er alle Abend zu ihr kommen sollte, aber die Zauberin, die nur bei Tage kam, merkte nichts davon, bis einmal Rapunzel anfieng und zu ihr sagte ‘sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen, als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.’ ‘Ach du gottloses Kind,’ rief die Zauberin ‘was muß ich von dir hören, so hast du mich doch betrogen!’ Und in ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten, und ritsch, ritsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte. Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/128
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/128>, abgerufen am 04.05.2024.