Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand und war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müd war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft schlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen. Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildniß waren, da trug es sich zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei und das Rehlein hörte es und wär' gar zu gern dabei gewesen. "Ach, sprach es zum Schwesterlein, laß mich hinaus in die Jagd, ich kann's nicht länger mehr aushalten" und bat so lange, bis es einwilligte. "Aber, sprach es zu ihm, komm mir ja Abends wieder, vor den wilden Jägern schließ ich mein Thürlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: Mein Schwesterlein, laß mich herein! und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Thürlein nicht auf." Nun sprang das Rehchen hinaus und war ihm so wohl, und war so lustig in freier Luft. Der König und seine Jäger sahen das schöne Thierlein und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen und wenn sie meinten, sie hätten es gewiß, da sprang es über das Gebüsch weg und war verschwunden. Wie's dunkel ward, lief es zu dem Häuschen, klopfte und sprach: "Mein Schwesterlein, laß mich herein!" Da ward ihm die kleine Thüre aufgethan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand und war vergnuͤgt und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen muͤd war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Ruͤcken des Rehkaͤlbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft schlief. Und haͤtte das Bruͤderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es waͤre ein herrliches Leben gewesen. Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildniß waren, da trug es sich zu, daß der Koͤnig des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hoͤrnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei und das Rehlein hoͤrte es und waͤr’ gar zu gern dabei gewesen. „Ach, sprach es zum Schwesterlein, laß mich hinaus in die Jagd, ich kann’s nicht laͤnger mehr aushalten“ und bat so lange, bis es einwilligte. „Aber, sprach es zu ihm, komm mir ja Abends wieder, vor den wilden Jaͤgern schließ ich mein Thuͤrlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: Mein Schwesterlein, laß mich herein! und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Thuͤrlein nicht auf.“ Nun sprang das Rehchen hinaus und war ihm so wohl, und war so lustig in freier Luft. Der Koͤnig und seine Jaͤger sahen das schoͤne Thierlein und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen und wenn sie meinten, sie haͤtten es gewiß, da sprang es uͤber das Gebuͤsch weg und war verschwunden. Wie’s dunkel ward, lief es zu dem Haͤuschen, klopfte und sprach: „Mein Schwesterlein, laß mich herein!“ Da ward ihm die kleine Thuͤre aufgethan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0124" n="60"/> zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand und war vergnuͤgt und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen muͤd war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Ruͤcken des Rehkaͤlbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft schlief. Und haͤtte das Bruͤderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es waͤre ein herrliches Leben gewesen.</p><lb/> <p>Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildniß waren, da trug es sich zu, daß der Koͤnig des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. 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Wie’s dunkel ward, lief es zu dem Haͤuschen, klopfte und sprach: „Mein Schwesterlein, laß mich herein!“ Da ward ihm die kleine Thuͤre aufgethan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als </p> </div> </body> </text> </TEI> [60/0124]
zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand und war vergnuͤgt und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen muͤd war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Ruͤcken des Rehkaͤlbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft schlief. Und haͤtte das Bruͤderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es waͤre ein herrliches Leben gewesen.
Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildniß waren, da trug es sich zu, daß der Koͤnig des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hoͤrnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei und das Rehlein hoͤrte es und waͤr’ gar zu gern dabei gewesen. „Ach, sprach es zum Schwesterlein, laß mich hinaus in die Jagd, ich kann’s nicht laͤnger mehr aushalten“ und bat so lange, bis es einwilligte. „Aber, sprach es zu ihm, komm mir ja Abends wieder, vor den wilden Jaͤgern schließ ich mein Thuͤrlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: Mein Schwesterlein, laß mich herein! und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Thuͤrlein nicht auf.“ Nun sprang das Rehchen hinaus und war ihm so wohl, und war so lustig in freier Luft. Der Koͤnig und seine Jaͤger sahen das schoͤne Thierlein und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen und wenn sie meinten, sie haͤtten es gewiß, da sprang es uͤber das Gebuͤsch weg und war verschwunden. Wie’s dunkel ward, lief es zu dem Haͤuschen, klopfte und sprach: „Mein Schwesterlein, laß mich herein!“ Da ward ihm die kleine Thuͤre aufgethan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als
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