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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. partikelcomposition. -- part. mit nom.
(divictissimo?, vielleicht invictissimus) ker. 83. un-ziscet-
hendi (so l. ich f. unziscethedi, inserabile, vielleicht inse-
cabile?) ibid. scheinen mehr den sinn der lat. part. auf
-ndus zu geben. Mhd. beispiele fehlen mir ganz, denn
die participialen adverbia un-slatende Ulr. Trist. 2603. un-
wißende (1, 1020.) sind doch etwas anders. Selbst nhd.
haben dergleichen zus. setzungen ihr ungewohntes, man
sagt eben nicht: unglaubende heiden, untragender acker.
unredender mann etc. eher schon: unliebende eltern,
unvermögende, unwißende leute. unentweihende hände;
ich glaube, daß dichter ohne gefahr neue bildungen wa-
gen dürfen und einführen werden. Im ags. und altn. ist
ihr gebrauch frei, wie im goth. (vgl. s. 691.). b) un-
vor dem part. praet. stehet überall (auch im hochd.) so
häufig und uneingeschränkt, daß ich mich aller beispiele
enthalte. -- 4) das übrige verbum leidet kein un- vor sich;
lediglich können aus schon gebildeten nominibus mit un-
schwache verba abgeleitet sein. Anders ausgedrückt: es
gibt keine starken verba mit un- und alle damit zu-
sammengesetzt scheinenden schwachen supponieren no-
mina, in welchen die composition bereits vorgegangen
ist. Un- also gestattet nicht, was missa-, fulla-, wana- aus-
nahmsweise gestatteten (s. 587. 670. 671.). Beispiele jener
ableitungen: goth. un-sveran (atimazein) Luc. 20, 11. Joh. 8,
49; un-verjan (indignari) Marc. 10, 14, 41. von un-vers,
un-veris (commotus)? Ahd. um-muaßon K. 48a; un-stille (in-
quietet) K. 48b; un-eran doc. 241a; un-fruotan (infatuare)
doc. 215b; un-pleiden (tristari) ker. 6. 194. vgl. umpleithumes
(contristamur) ker. 210; un-werde (fordescat) mons. 302. von
un-werd (vilis); mir un-willot (taedet me) N. Boeth. 229.
von un-willo (taedium); imo un-mahta (deliquium passus
est) N. Boeth. 131, von un-maht (deliquium) geleitet, also
mit dem inf. un-mahten (wie liuhten, praet. liuhta) nicht
von un-mugen (non valere), das nicht existiert. Ags.
un-claensjan (polluere); un-mynegjan (oblivisci); un-rot-
jan (tristem reddere) un-rotsjan (contristari); un-syngjan
(peccato liberare) von un-synnig (culpa liber); un-stilljan
(commovere); un-veordjan (dehonorare); un-vlitegjan
(deformare) von un-vlite (deformitas) [in verschiednen
von Lye angeführten compositis steht un- für on-, = ent-,
welche mit unsrer partikel nicht zu vermischen sind].
Altn. o-fagna (tristari); o-glediaz (tristari); o-heimila (pos-
sessionem alicui interdicere); o-helga (profanare); o-maka
(molestare); o-nyta (inutile reddere) etc. Mhd. un-gebae-
ren c. p. 361, 64d; un-bilden a. Tit. 91. Nib. 5897; un-

III. partikelcompoſition. — part. mit nom.
(divictiſſimo?, vielleicht invictiſſimus) ker. 83. un-ziſcêt-
hendi (ſo l. ich f. unziſcethedi, inſerabile, vielleicht inſe-
cabile?) ibid. ſcheinen mehr den ſinn der lat. part. auf
-ndus zu geben. Mhd. beiſpiele fehlen mir ganz, denn
die participialen adverbia un-ſlâtende Ulr. Triſt. 2603. un-
wiƷƷende (1, 1020.) ſind doch etwas anders. Selbſt nhd.
haben dergleichen zuſ. ſetzungen ihr ungewohntes, man
ſagt eben nicht: unglaubende heiden, untragender acker.
unredender mann etc. eher ſchon: unliebende eltern,
unvermögende, unwißende leute. unentweihende hände;
ich glaube, daß dichter ohne gefahr neue bildungen wa-
gen dürfen und einführen werden. Im agſ. und altn. iſt
ihr gebrauch frei, wie im goth. (vgl. ſ. 691.). b) un-
vor dem part. praet. ſtehet überall (auch im hochd.) ſo
häufig und uneingeſchränkt, daß ich mich aller beiſpiele
enthalte. — 4) das übrige verbum leidet kein un- vor ſich;
lediglich können aus ſchon gebildeten nominibus mit un-
ſchwache verba abgeleitet ſein. Anders ausgedrückt: es
gibt keine ſtarken verba mit un- und alle damit zu-
ſammengeſetzt ſcheinenden ſchwachen ſupponieren no-
mina, in welchen die compoſition bereits vorgegangen
iſt. Un- alſo geſtattet nicht, was miſſa-, fulla-, wana- aus-
nahmsweiſe geſtatteten (ſ. 587. 670. 671.). Beiſpiele jener
ableitungen: goth. un-ſvêran (ἀτιμάζειν) Luc. 20, 11. Joh. 8,
49; un-vêrjan (indignari) Marc. 10, 14, 41. von un-vêrs,
un-vêris (commotus)? Ahd. um-muaƷôn K. 48a; un-ſtillê (in-
quietet) K. 48b; un-êran doc. 241a; un-fruotan (infatuare)
doc. 215b; un-plîdên (triſtari) ker. 6. 194. vgl. umplîthumês
(contriſtamur) ker. 210; un-wërdê (fordeſcat) monſ. 302. von
un-wërd (vilis); mir un-willôt (taedet me) N. Boeth. 229.
von un-willo (taedium); imo un-mahta (deliquium paſſus
eſt) N. Boeth. 131, von un-maht (deliquium) geleitet, alſo
mit dem inf. un-mahten (wie liuhten, praet. liuhta) nicht
von un-mugen (non valere), das nicht exiſtiert. Agſ.
un-clænſjan (polluere); un-mynegjan (obliviſci); un-rot-
jan (triſtem reddere) un-rotſjan (contriſtari); un-ſyngjan
(peccato liberare) von un-ſynnig (culpâ liber); un-ſtilljan
(commovere); un-vëorðjan (dehonorare); un-vlitegjan
(deformare) von un-vlite (deformitas) [in verſchiednen
von Lye angeführten compoſitis ſteht un- für on-, = ent-,
welche mit unſrer partikel nicht zu vermiſchen ſind].
Altn. ô-fagna (triſtari); ô-glediaz (triſtari); ô-heimila (poſ-
ſeſſionem alicui interdicere); ô-hêlga (profanare); ô-maka
(moleſtare); ô-nŷta (inutile reddere) etc. Mhd. un-gebæ-
ren c. p. 361, 64d; un-bilden a. Tit. 91. Nib. 5897; un-

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[781/0799] III. partikelcompoſition. — part. mit nom. (divictiſſimo?, vielleicht invictiſſimus) ker. 83. un-ziſcêt- hendi (ſo l. ich f. unziſcethedi, inſerabile, vielleicht inſe- cabile?) ibid. ſcheinen mehr den ſinn der lat. part. auf -ndus zu geben. Mhd. beiſpiele fehlen mir ganz, denn die participialen adverbia un-ſlâtende Ulr. Triſt. 2603. un- wiƷƷende (1, 1020.) ſind doch etwas anders. Selbſt nhd. haben dergleichen zuſ. ſetzungen ihr ungewohntes, man ſagt eben nicht: unglaubende heiden, untragender acker. unredender mann etc. eher ſchon: unliebende eltern, unvermögende, unwißende leute. unentweihende hände; ich glaube, daß dichter ohne gefahr neue bildungen wa- gen dürfen und einführen werden. Im agſ. und altn. iſt ihr gebrauch frei, wie im goth. (vgl. ſ. 691.). b) un- vor dem part. praet. ſtehet überall (auch im hochd.) ſo häufig und uneingeſchränkt, daß ich mich aller beiſpiele enthalte. — 4) das übrige verbum leidet kein un- vor ſich; lediglich können aus ſchon gebildeten nominibus mit un- ſchwache verba abgeleitet ſein. Anders ausgedrückt: es gibt keine ſtarken verba mit un- und alle damit zu- ſammengeſetzt ſcheinenden ſchwachen ſupponieren no- mina, in welchen die compoſition bereits vorgegangen iſt. Un- alſo geſtattet nicht, was miſſa-, fulla-, wana- aus- nahmsweiſe geſtatteten (ſ. 587. 670. 671.). Beiſpiele jener ableitungen: goth. un-ſvêran (ἀτιμάζειν) Luc. 20, 11. Joh. 8, 49; un-vêrjan (indignari) Marc. 10, 14, 41. von un-vêrs, un-vêris (commotus)? Ahd. um-muaƷôn K. 48a; un-ſtillê (in- quietet) K. 48b; un-êran doc. 241a; un-fruotan (infatuare) doc. 215b; un-plîdên (triſtari) ker. 6. 194. vgl. umplîthumês (contriſtamur) ker. 210; un-wërdê (fordeſcat) monſ. 302. von un-wërd (vilis); mir un-willôt (taedet me) N. Boeth. 229. von un-willo (taedium); imo un-mahta (deliquium paſſus eſt) N. Boeth. 131, von un-maht (deliquium) geleitet, alſo mit dem inf. un-mahten (wie liuhten, praet. liuhta) nicht von un-mugen (non valere), das nicht exiſtiert. Agſ. un-clænſjan (polluere); un-mynegjan (obliviſci); un-rot- jan (triſtem reddere) un-rotſjan (contriſtari); un-ſyngjan (peccato liberare) von un-ſynnig (culpâ liber); un-ſtilljan (commovere); un-vëorðjan (dehonorare); un-vlitegjan (deformare) von un-vlite (deformitas) [in verſchiednen von Lye angeführten compoſitis ſteht un- für on-, = ent-, welche mit unſrer partikel nicht zu vermiſchen ſind]. Altn. ô-fagna (triſtari); ô-glediaz (triſtari); ô-heimila (poſ- ſeſſionem alicui interdicere); ô-hêlga (profanare); ô-maka (moleſtare); ô-nŷta (inutile reddere) etc. Mhd. un-gebæ- ren c. p. 361, 64d; un-bilden a. Tit. 91. Nib. 5897; un-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 781. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/799>, abgerufen am 22.11.2024.