15) wenn in einem satz zwei composita hintereinan- der stehen, deren zweites wort dasselbe ist, so pflegt es die nhd. sprache, zumahl der canzleistil, das erste mahl wegzulaßen, z. b. gold- und silber-schmid, fisch- und krebs-fang, freund- und verwandt-schaft. Im mhd. und ahd. zeigt sich diese freiheit noch nicht, ungeachtet sie bei haftendem compositionsvocal, der gleich das erste wort als ein compositionelles bezeichnen würde (beßer als der nicht hörbare strich in nhd. schreibung), zuläßiger schiene. Das erste wort einer eigentl. comp. läßt sich nicht auf diese weise sparen, z. b. für land-recht und land-stte nicht sagen: land-recht und -sitte, wohl aber uneigentlich lan- des-recht und -sitte, indem dann landes nichts als der vorstehende gen. ist.
16) vom erlöschen des compositionsvocals ist s. 413- 424. gehandelt worden. Wie sich aber der ableitungsvo- cal in den nhd. wörtern bräuti-gam und nachti-gall er- halten hat, so scheint jener in den mhd. vledra-maus und heila-wac (s. 511 und 536.) versteinert fortzudauern. Es gibt wohl noch mehr beispiele. Ob sich in andern fäl- len -el und -er aus dem comp. vocal entwickelte? wurde s. 540. gefragt.
17) beide verzeichnisse, ihrer ausführlichkeit unerach- tet, liefern nur einen geringen theil der wirklichen zu- sammensetzungen deutscher substantive, bestätigen aber hinlänglich was von dem wesen der eigentlichen compo- sition gesagt worden ist. Der compositionsvocal gleicht einem mörtel, der zwei steine verkittet und selbst mit ihnen zu einem neuen, eigenthümlichen begriff verwächst, daß sie je länger je weniger auseinander gerißen werden können. Zwei componierte wörter gesondert und ihren inhalt ohne jenen lebendigen hauch wahrer composition (der nach dem vergehen seiner leiblichen gestalt a un- sichtbar fortwirkt) äußerlich wieder zusammengereiht, werden oft einen ganz andern, immer einen leise ver- schiednen sinn gewähren. Der echte begriff des compo- situms entspringt aus dem verhältnisse, in dem beide wör- ter zur zeit seiner bildung gedacht worden sind und pflanzt sich hernach historisch fort; veränderungen erlei- den kann er wie jedes einfache oder abgeleitete wort.
18) eine menge composita sterben aus und wiewohl ihre masse im ganzen wächst (simplicia und derivata ge- hen verloren und müßen durch composita ersetzt wer- den) so fehlen uns doch jetzt unzählige zusammensetzun-
III. ſubſt. eigentl. comp. — ſubſt. mit ſubſt.
15) wenn in einem ſatz zwei compoſita hintereinan- der ſtehen, deren zweites wort dasſelbe iſt, ſo pflegt es die nhd. ſprache, zumahl der canzleiſtil, das erſte mahl wegzulaßen, z. b. gold- und ſilber-ſchmid, fiſch- und krebs-fang, freund- und verwandt-ſchaft. Im mhd. und ahd. zeigt ſich dieſe freiheit noch nicht, ungeachtet ſie bei haftendem compoſitionsvocal, der gleich das erſte wort als ein compoſitionelles bezeichnen würde (beßer als der nicht hörbare ſtrich in nhd. ſchreibung), zuläßiger ſchiene. Das erſte wort einer eigentl. comp. läßt ſich nicht auf dieſe weiſe ſparen, z. b. für land-recht und land-ſtte nicht ſagen: land-recht und -ſitte, wohl aber uneigentlich lan- des-recht und -ſitte, indem dann landes nichts als der vorſtehende gen. iſt.
16) vom erlöſchen des compoſitionsvocals iſt ſ. 413- 424. gehandelt worden. Wie ſich aber der ableitungsvo- cal in den nhd. wörtern bräuti-gam und nachti-gall er- halten hat, ſo ſcheint jener in den mhd. vlëdra-mûs und heila-wâc (ſ. 511 und 536.) verſteinert fortzudauern. Es gibt wohl noch mehr beiſpiele. Ob ſich in andern fäl- len -el und -er aus dem comp. vocal entwickelte? wurde ſ. 540. gefragt.
17) beide verzeichniſſe, ihrer ausführlichkeit unerach- tet, liefern nur einen geringen theil der wirklichen zu- ſammenſetzungen deutſcher ſubſtantive, beſtätigen aber hinlänglich was von dem weſen der eigentlichen compo- ſition geſagt worden iſt. Der compoſitionsvocal gleicht einem mörtel, der zwei ſteine verkittet und ſelbſt mit ihnen zu einem neuen, eigenthümlichen begriff verwächſt, daß ſie je länger je weniger auseinander gerißen werden können. Zwei componierte wörter geſondert und ihren inhalt ohne jenen lebendigen hauch wahrer compoſition (der nach dem vergehen ſeiner leiblichen geſtalt a un- ſichtbar fortwirkt) äußerlich wieder zuſammengereiht, werden oft einen ganz andern, immer einen leiſe ver- ſchiednen ſinn gewähren. Der echte begriff des compo- ſitums entſpringt aus dem verhältniſſe, in dem beide wör- ter zur zeit ſeiner bildung gedacht worden ſind und pflanzt ſich hernach hiſtoriſch fort; veränderungen erlei- den kann er wie jedes einfache oder abgeleitete wort.
18) eine menge compoſita ſterben aus und wiewohl ihre maſſe im ganzen wächſt (ſimplicia und derivata ge- hen verloren und müßen durch compoſita erſetzt wer- den) ſo fehlen uns doch jetzt unzählige zuſammenſetzun-
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III. ſubſt. eigentl. comp. — ſubſt. mit ſubſt.
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der ſtehen, deren zweites wort dasſelbe iſt, ſo pflegt es
die nhd. ſprache, zumahl der canzleiſtil, das erſte mahl
wegzulaßen, z. b. gold- und ſilber-ſchmid, fiſch- und
krebs-fang, freund- und verwandt-ſchaft. Im mhd. und
ahd. zeigt ſich dieſe freiheit noch nicht, ungeachtet ſie
bei haftendem compoſitionsvocal, der gleich das erſte wort
als ein compoſitionelles bezeichnen würde (beßer als der
nicht hörbare ſtrich in nhd. ſchreibung), zuläßiger ſchiene.
Das erſte wort einer eigentl. comp. läßt ſich nicht auf
dieſe weiſe ſparen, z. b. für land-recht und land-ſtte nicht
ſagen: land-recht und -ſitte, wohl aber uneigentlich lan-
des-recht und -ſitte, indem dann landes nichts als der
vorſtehende gen. iſt.
16) vom erlöſchen des compoſitionsvocals iſt ſ. 413-
424. gehandelt worden. Wie ſich aber der ableitungsvo-
cal in den nhd. wörtern bräuti-gam und nachti-gall er-
halten hat, ſo ſcheint jener in den mhd. vlëdra-mûs und
heila-wâc (ſ. 511 und 536.) verſteinert fortzudauern. Es
gibt wohl noch mehr beiſpiele. Ob ſich in andern fäl-
len -el und -er aus dem comp. vocal entwickelte? wurde
ſ. 540. gefragt.
17) beide verzeichniſſe, ihrer ausführlichkeit unerach-
tet, liefern nur einen geringen theil der wirklichen zu-
ſammenſetzungen deutſcher ſubſtantive, beſtätigen aber
hinlänglich was von dem weſen der eigentlichen compo-
ſition geſagt worden iſt. Der compoſitionsvocal gleicht
einem mörtel, der zwei ſteine verkittet und ſelbſt mit
ihnen zu einem neuen, eigenthümlichen begriff verwächſt,
daß ſie je länger je weniger auseinander gerißen werden
können. Zwei componierte wörter geſondert und ihren
inhalt ohne jenen lebendigen hauch wahrer compoſition
(der nach dem vergehen ſeiner leiblichen geſtalt a un-
ſichtbar fortwirkt) äußerlich wieder zuſammengereiht,
werden oft einen ganz andern, immer einen leiſe ver-
ſchiednen ſinn gewähren. Der echte begriff des compo-
ſitums entſpringt aus dem verhältniſſe, in dem beide wör-
ter zur zeit ſeiner bildung gedacht worden ſind und
pflanzt ſich hernach hiſtoriſch fort; veränderungen erlei-
den kann er wie jedes einfache oder abgeleitete wort.
18) eine menge compoſita ſterben aus und wiewohl
ihre maſſe im ganzen wächſt (ſimplicia und derivata ge-
hen verloren und müßen durch compoſita erſetzt wer-
den) ſo fehlen uns doch jetzt unzählige zuſammenſetzun-
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/564>, abgerufen am 22.11.2024.
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