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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelniederländische vocale.
länge kürze, oder b) ein syncopiertes flexions-e *)
statt der organ. kürze länge herbeiführt. Die fälle sind
bei den buchstaben angegeben, bedürfen aber im ein-
zelnen noch weiterer prüfung. Gewährte uns die nie-
derl. poesie durch den unterschied stumpfer und klin-
gender reime so bestimmten aufschluß über länge und
kürze der voc., als es die mittelh. thut; so würden
wir hier sicherer vorschreiten. Allein es gibt kaum
strophische lieder mit reim verschränkungen; die vers-
meßung der gleichreimigen, erzählenden gedichte habe
ich noch nicht gehörig untersucht. Die in den mei-
sten hss. beobachtete schreibung macht das auseinan-
dergesetzte system wahrscheinlich, doch bei manchem
schwanken nicht gewiß. Einiges darf man für aus
den reimen bewiesen annehmen. Die genauigkeit der
dichter im reimen läßt sich nicht bezweifeln, Maerl.
z. b. bindet kein bat (rogavit) dat (id) man (vir) dan
(nemus) auf raet (consil.) gaet (it) saen (statim) staen
(stare), warum sollte er ein hanen (gallis) varen (ire)
auf waenen (putare) jaeren (annis) binden? er reimt
also wanen, jaren:hanen, varen, weil man wirklich
wanen, jaren aussprach. Diese kürzung des ae in a
beweisen unzählige reime. Ungleich wenigere die
verlängerung z. b. Rein. 338. 343. ghemaent (moni-
tus): waent (putat) maende (monuit):waende (puta-
vit) es ist gleichgültig, ob man hier waende kraft der
regel b aus wanede entspringen, oder die org. länge,
weil die bedingung der regel a aufhört, sich von selbst
wiederherstellen laßen will. Das aufgestellte verhält-
niß scheint zwischen a und ae am ausgemachtesten,
bedenklicher bleiben die kürzungen des e, ei, au. Die
regel b hat einige analogie mit der neuhochd. deh-
nung des schwebelauts mahnt, mahnte st. des älteren
manet, manete, nur daß es auch im inf. mahnen, wie
im neuniederl. maanen (= maenen) heißt. Mittel-
niederd. reimen wanen und manen niemahls, mittelh.
weder wanen:manen, noch wande:mande. Über-
haupt geht die mittelh. mundart in diesem punct na-
turgemäßer zu werke, die syncope der flexion kann helt
nicht in helt umwandeln, obwohl es noch eine zeitlang
wie hel't lautet (vgl. oben s. 28 und 376. note).

*) Vorausgesetzt, daß die wurzel auf einfachen cons. ausgeht,
z. b. spreken, sprect; nicht bei doppeltem, daher aus
mecken, blicken, mect, blict wird, kein meet, blict.
I. mittelniederländiſche vocale.
länge kürze, oder β) ein ſyncopiertes flexions-e *)
ſtatt der organ. kürze länge herbeiführt. Die fälle ſind
bei den buchſtaben angegeben, bedürfen aber im ein-
zelnen noch weiterer prüfung. Gewährte uns die nie-
derl. poeſie durch den unterſchied ſtumpfer und klin-
gender reime ſo beſtimmten aufſchluß über länge und
kürze der voc., als es die mittelh. thut; ſo würden
wir hier ſicherer vorſchreiten. Allein es gibt kaum
ſtrophiſche lieder mit reim verſchränkungen; die vers-
meßung der gleichreimigen, erzählenden gedichte habe
ich noch nicht gehörig unterſucht. Die in den mei-
ſten hſſ. beobachtete ſchreibung macht das auseinan-
dergeſetzte ſyſtem wahrſcheinlich, doch bei manchem
ſchwanken nicht gewiß. Einiges darf man für aus
den reimen bewieſen annehmen. Die genauigkeit der
dichter im reimen läßt ſich nicht bezweifeln, Maerl.
z. b. bindet kein bat (rogavit) dat (id) man (vir) dan
(nemus) auf raet (conſil.) gaet (it) ſaen (ſtatim) ſtaen
(ſtare), warum ſollte er ein hanen (gallis) varen (ire)
auf waenen (putare) jaeren (annis) binden? er reimt
alſo wanen, jaren:hanen, varen, weil man wirklich
wanen, jaren ausſprach. Dieſe kürzung des ae in a
beweiſen unzählige reime. Ungleich wenigere die
verlängerung z. b. Rein. 338. 343. ghemaent (moni-
tus): waent (putat) maende (monuit):waende (puta-
vit) es iſt gleichgültig, ob man hier waende kraft der
regel β aus wanede entſpringen, oder die org. länge,
weil die bedingung der regel α aufhört, ſich von ſelbſt
wiederherſtellen laßen will. Das aufgeſtellte verhält-
niß ſcheint zwiſchen a und ae am ausgemachteſten,
bedenklicher bleiben die kürzungen des ê, î, û. Die
regel β hat einige analogie mit der neuhochd. deh-
nung des ſchwebelauts mahnt, mahnte ſt. des älteren
manet, manete, nur daß es auch im inf. mahnen, wie
im neuniederl. maanen (= maenen) heißt. Mittel-
niederd. reimen wânen und manen niemahls, mittelh.
weder wânen:manen, noch wânde:mande. Über-
haupt geht die mittelh. mundart in dieſem punct na-
turgemäßer zu werke, die ſyncope der flexion kann helt
nicht in hêlt umwandeln, obwohl es noch eine zeitlang
wie hel’t lautet (vgl. oben ſ. 28 und 376. note).

*) Vorausgeſetzt, daß die wurzel auf einfachen conſ. ausgeht,
z. b. ſprëken, ſprêct; nicht bei doppeltem, daher aus
mëcken, blicken, mëct, blict wird, kein mêet, blict.
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[485/0511] I. mittelniederländiſche vocale. länge kürze, oder β) ein ſyncopiertes flexions-e *) ſtatt der organ. kürze länge herbeiführt. Die fälle ſind bei den buchſtaben angegeben, bedürfen aber im ein- zelnen noch weiterer prüfung. Gewährte uns die nie- derl. poeſie durch den unterſchied ſtumpfer und klin- gender reime ſo beſtimmten aufſchluß über länge und kürze der voc., als es die mittelh. thut; ſo würden wir hier ſicherer vorſchreiten. Allein es gibt kaum ſtrophiſche lieder mit reim verſchränkungen; die vers- meßung der gleichreimigen, erzählenden gedichte habe ich noch nicht gehörig unterſucht. Die in den mei- ſten hſſ. beobachtete ſchreibung macht das auseinan- dergeſetzte ſyſtem wahrſcheinlich, doch bei manchem ſchwanken nicht gewiß. Einiges darf man für aus den reimen bewieſen annehmen. Die genauigkeit der dichter im reimen läßt ſich nicht bezweifeln, Maerl. z. b. bindet kein bat (rogavit) dat (id) man (vir) dan (nemus) auf raet (conſil.) gaet (it) ſaen (ſtatim) ſtaen (ſtare), warum ſollte er ein hanen (gallis) varen (ire) auf waenen (putare) jaeren (annis) binden? er reimt alſo wanen, jaren:hanen, varen, weil man wirklich wanen, jaren ausſprach. Dieſe kürzung des ae in a beweiſen unzählige reime. Ungleich wenigere die verlängerung z. b. Rein. 338. 343. ghemaent (moni- tus): waent (putat) maende (monuit):waende (puta- vit) es iſt gleichgültig, ob man hier waende kraft der regel β aus wanede entſpringen, oder die org. länge, weil die bedingung der regel α aufhört, ſich von ſelbſt wiederherſtellen laßen will. Das aufgeſtellte verhält- niß ſcheint zwiſchen a und ae am ausgemachteſten, bedenklicher bleiben die kürzungen des ê, î, û. Die regel β hat einige analogie mit der neuhochd. deh- nung des ſchwebelauts mahnt, mahnte ſt. des älteren manet, manete, nur daß es auch im inf. mahnen, wie im neuniederl. maanen (= maenen) heißt. Mittel- niederd. reimen wânen und manen niemahls, mittelh. weder wânen:manen, noch wânde:mande. Über- haupt geht die mittelh. mundart in dieſem punct na- turgemäßer zu werke, die ſyncope der flexion kann helt nicht in hêlt umwandeln, obwohl es noch eine zeitlang wie hel’t lautet (vgl. oben ſ. 28 und 376. note). *) Vorausgeſetzt, daß die wurzel auf einfachen conſ. ausgeht, z. b. ſprëken, ſprêct; nicht bei doppeltem, daher aus mëcken, blicken, mëct, blict wird, kein mêet, blict.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/511>, abgerufen am 22.11.2024.