1) die vertheilung der vocale entfernt sich weiter vom ursprünglichen organismus, als im mittelh., nament- lich ist die verwirrung der e, e, i ein bedeutender nachtheil. Manche verhältnisse der ablaute leiden darunter.
2) einen ins auge fallenden unterschied vom mittelh. gibt die unentwickelung des umlauts. Bloß der um- laut des a in e besteht oder vielmehr hat bestanden, da sich e und e vermengen, folglich in neuen fällen wirkt er nicht mehr. Gälte noch ein lebendiger um- laut des a in e (nicht bloß ein beibehaltener) so müste z. b. der pl. gaven (st. gaeven) im conj. geven (da- rent) bilden, bildet aber gaven, welches wiederum für gaeven steht. Diese unanwendbarkeit des umlauts hindert eine menge formen gehörig zu scheiden, die bei der früheren, deutlicheren stexionsendung freilich auch ohne umlaut geschieden waren, allein jetzt ver- schwimmen vgl. waren (erant) waren (essent) goten (fuderunt) goten (funderent) sloeghen (percusserunt) sloeghen (percuterent) beweis die reime quame (veni- ret):scame (Stoke 3, 61.) und viele ähnliche. Oft hat nun die sprache auf anderm wege der zweideu- tigkeit zu begegnen gesucht, z. b. durch verwandlung der starken in schwache form, die zumahl beim nie- derl. subst. weiter umgreift, als in andern mundarten und vermuthlich mit aus diesem grunde. Wichtig aber scheint die abwesenheit des umlauts für die beim goth. und alth. (gegen die annahme, daß es unge- schriebene und doch ausgesprochene umlaute gegeben habe) verfochtene beschränkung und stufenweise em- porkunft desselben (s. 10. 51. 109. 113. 363.) Hier im niederl. beweisen reim und heutige sprache, daß wirk- lich kein umlaut gesprochen wurde. Auch im mittel- niederd. war er mangelhafter, als im mittelh.; diese abstumpfung des gefühls für vocallaute im sächs. und niederl. verdient um so mehr aufmerksamkeit, als das alts. es mit dem umlaut zu halten schien, wie das alth., das angels. und altn. aber ihn besonders be- günstigten.
3) eine andere eigenthümliche abweichung der niederl. sprache von der vocaleinrichtung der übrigen zeigt sich in dem wechsel zwischen kürze und länge (a und ae, e und e, i und ei, o und o, u und au) je nach- dem a) ein zutretendes flexions-e statt der organ.
I. mittelniederländiſche vocale.
Schlußbemerkungen zu den vocalen.
1) die vertheilung der vocale entfernt ſich weiter vom urſprünglichen organiſmus, als im mittelh., nament- lich iſt die verwirrung der e, ë, i ein bedeutender nachtheil. Manche verhältniſſe der ablaute leiden darunter.
2) einen ins auge fallenden unterſchied vom mittelh. gibt die unentwickelung des umlauts. Bloß der um- laut des a in e beſteht oder vielmehr hat beſtanden, da ſich e und ë vermengen, folglich in neuen fällen wirkt er nicht mehr. Gälte noch ein lebendiger um- laut des a in e (nicht bloß ein beibehaltener) ſo müſte z. b. der pl. gaven (ſt. gaeven) im conj. geven (da- rent) bilden, bildet aber gaven, welches wiederum für gaeven ſteht. Dieſe unanwendbarkeit des umlauts hindert eine menge formen gehörig zu ſcheiden, die bei der früheren, deutlicheren ſtexionsendung freilich auch ohne umlaut geſchieden waren, allein jetzt ver- ſchwimmen vgl. waren (erant) waren (eſſent) goten (fuderunt) goten (funderent) ſloeghen (percuſſerunt) ſloeghen (percuterent) beweis die reime quame (veni- ret):ſcame (Stoke 3, 61.) und viele ähnliche. Oft hat nun die ſprache auf anderm wege der zweideu- tigkeit zu begegnen geſucht, z. b. durch verwandlung der ſtarken in ſchwache form, die zumahl beim nie- derl. ſubſt. weiter umgreift, als in andern mundarten und vermuthlich mit aus dieſem grunde. Wichtig aber ſcheint die abweſenheit des umlauts für die beim goth. und alth. (gegen die annahme, daß es unge- ſchriebene und doch ausgeſprochene umlaute gegeben habe) verfochtene beſchränkung und ſtufenweiſe em- porkunft deſſelben (ſ. 10. 51. 109. 113. 363.) Hier im niederl. beweiſen reim und heutige ſprache, daß wirk- lich kein umlaut geſprochen wurde. Auch im mittel- niederd. war er mangelhafter, als im mittelh.; dieſe abſtumpfung des gefühls für vocallaute im ſächſ. und niederl. verdient um ſo mehr aufmerkſamkeit, als das altſ. es mit dem umlaut zu halten ſchien, wie das alth., das angelſ. und altn. aber ihn beſonders be- günſtigten.
3) eine andere eigenthümliche abweichung der niederl. ſprache von der vocaleinrichtung der übrigen zeigt ſich in dem wechſel zwiſchen kürze und länge (a und ae, ë und ê, i und î, o und ô, u und û) je nach- dem α) ein zutretendes flexions-e ſtatt der organ.
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I. mittelniederländiſche vocale.
Schlußbemerkungen zu den vocalen.
1) die vertheilung der vocale entfernt ſich weiter vom
urſprünglichen organiſmus, als im mittelh., nament-
lich iſt die verwirrung der e, ë, i ein bedeutender
nachtheil. Manche verhältniſſe der ablaute leiden
darunter.
2) einen ins auge fallenden unterſchied vom mittelh.
gibt die unentwickelung des umlauts. Bloß der um-
laut des a in e beſteht oder vielmehr hat beſtanden,
da ſich e und ë vermengen, folglich in neuen fällen
wirkt er nicht mehr. Gälte noch ein lebendiger um-
laut des a in e (nicht bloß ein beibehaltener) ſo müſte
z. b. der pl. gaven (ſt. gaeven) im conj. geven (da-
rent) bilden, bildet aber gaven, welches wiederum
für gaeven ſteht. Dieſe unanwendbarkeit des umlauts
hindert eine menge formen gehörig zu ſcheiden, die
bei der früheren, deutlicheren ſtexionsendung freilich
auch ohne umlaut geſchieden waren, allein jetzt ver-
ſchwimmen vgl. waren (erant) waren (eſſent) goten
(fuderunt) goten (funderent) ſloeghen (percuſſerunt)
ſloeghen (percuterent) beweis die reime quame (veni-
ret):ſcame (Stoke 3, 61.) und viele ähnliche. Oft
hat nun die ſprache auf anderm wege der zweideu-
tigkeit zu begegnen geſucht, z. b. durch verwandlung
der ſtarken in ſchwache form, die zumahl beim nie-
derl. ſubſt. weiter umgreift, als in andern mundarten
und vermuthlich mit aus dieſem grunde. Wichtig
aber ſcheint die abweſenheit des umlauts für die beim
goth. und alth. (gegen die annahme, daß es unge-
ſchriebene und doch ausgeſprochene umlaute gegeben
habe) verfochtene beſchränkung und ſtufenweiſe em-
porkunft deſſelben (ſ. 10. 51. 109. 113. 363.) Hier im
niederl. beweiſen reim und heutige ſprache, daß wirk-
lich kein umlaut geſprochen wurde. Auch im mittel-
niederd. war er mangelhafter, als im mittelh.; dieſe
abſtumpfung des gefühls für vocallaute im ſächſ. und
niederl. verdient um ſo mehr aufmerkſamkeit, als das
altſ. es mit dem umlaut zu halten ſchien, wie das
alth., das angelſ. und altn. aber ihn beſonders be-
günſtigten.
3) eine andere eigenthümliche abweichung der niederl.
ſprache von der vocaleinrichtung der übrigen zeigt
ſich in dem wechſel zwiſchen kürze und länge (a und
ae, ë und ê, i und î, o und ô, u und û) je nach-
dem α) ein zutretendes flexions-e ſtatt der organ.
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/510>, abgerufen am 22.11.2024.
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