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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelniederdeutsche buchstaben.
sennen, kenden erweislich, da henden auch auf bewun-
den (9b) reimt und so verhält es sich mit einer menge
ungenauer reime in Roth. fragm. und kaiserchr., die
durch herstellung scheinbarer niederd. formen genau wer-
den würden. Ein näheres studium der freieren reim-
kunst kann aber grundsätze an hand geben, nach wel-
chen sich mancher zweifel zwischen hoch- und niederd.
urform in diesen gedichten lösen wird. Ähnliche dun-
kelheit, doch geringere, schwebt über Heinr. v. Vel-
decks werken, den die mittelh. dichter selbst als den
gründer ihrer meisterschaft ansehen, und dessen eneit
(oder ened im reim auf warhed 4a 102a) mir die haupt-
quelle mittelh. sprache scheint. Dichtete er in niederd.
sprache und wurden seine arbeiten nachher in hochd.
umgeschrieben? oder bequemte er sich selbst zum hochd.
so, daß er eigenheiten der angebornen mundart dabei
freien lauf ließ? Anders und in näherer beziehung auf
unsere buchstabenlehre ausgedrückt lautet dieselbe frage
so: sind eine menge ungenauer reime in Veld. werken
in genaue niederdeutsche zu verwandeln? oder als un-
genaue hochd. beizubehalten? Beiderlei ansicht läßt
sich vertheidigen. Dafür daß der dichter in reiner mut-
tersprache dichtete, redet 1) seine herkunft aus westpha-
len, sein aufenthalt am clever hof, wo er die eneit be-
gann und man wohl kein hochd. verlangte. Er been-
digte sie später in thüringen, aber auch da waren beide
mundarten leicht verständlich. Es zeigt sich im ganzen
werke gleichförmigkeit, im letzten theil neigt kein
hochd. vor. 2) Veld. gebraucht nicht allein ungenaue
reime in größerer zahl, als irgend ein mittelh. dichter,
sondern selbst solche, die sich keiner der letztern er-
laubte; alle aber lösen sich ohne mühe in niederd. ge-
naue auf. Sollte er straßen:caritaten (M. S. 1, 18b)
bruoder:muoter (En. 11a. b) ancheises:ist En. 24a) (ge-
buoßt:muoß (En. 33a) schaz:haß, daß (En. 48a 68a 72b)
vaße:sazte (En 63b) etc. gebunden haben und nicht
vielmehr straten:caritaten, broder:moder, ancheises:es,
gebot:mot, scat:hat, dat, vate:sate? Umgekehrt, wenn
ihm daneben das hochd. gerecht war, warum zeigen
sich keine reime, die hochd. genau, niederd. ungenau
seyn würden? Ich wüste aus der ganzen En. nur fol-
gende anzuschlagen, 39b weit (albus): verneit (rubrum,
aus dem roman. vermeil, vermeis) wo das hochd. weiß:
verneiß schicklicher scheint, allein verneiß selbst ist uner-
wiesene form; sodann 43c 59b ei:zwei, wo zwar kein

I. mittelniederdeutſche buchſtaben.
ſënnen, kënden erweiſlich, da henden auch auf bewun-
den (9b) reimt und ſo verhält es ſich mit einer menge
ungenauer reime in Roth. fragm. und kaiſerchr., die
durch herſtellung ſcheinbarer niederd. formen genau wer-
den würden. Ein näheres ſtudium der freieren reim-
kunſt kann aber grundſätze an hand geben, nach wel-
chen ſich mancher zweifel zwiſchen hoch- und niederd.
urform in dieſen gedichten löſen wird. Ähnliche dun-
kelheit, doch geringere, ſchwebt über Heinr. v. Vel-
decks werken, den die mittelh. dichter ſelbſt als den
gründer ihrer meiſterſchaft anſehen, und deſſen êneit
(oder ênêd im reim auf wârhêd 4a 102a) mir die haupt-
quelle mittelh. ſprache ſcheint. Dichtete er in niederd.
ſprache und wurden ſeine arbeiten nachher in hochd.
umgeſchrieben? oder bequemte er ſich ſelbſt zum hochd.
ſo, daß er eigenheiten der angebornen mundart dabei
freien lauf ließ? Anders und in näherer beziehung auf
unſere buchſtabenlehre ausgedrückt lautet dieſelbe frage
ſo: ſind eine menge ungenauer reime in Veld. werken
in genaue niederdeutſche zu verwandeln? oder als un-
genaue hochd. beizubehalten? Beiderlei anſicht läßt
ſich vertheidigen. Dafür daß der dichter in reiner mut-
terſprache dichtete, redet 1) ſeine herkunft aus weſtpha-
len, ſein aufenthalt am clever hof, wo er die êneit be-
gann und man wohl kein hochd. verlangte. Er been-
digte ſie ſpäter in thüringen, aber auch da waren beide
mundarten leicht verſtändlich. Es zeigt ſich im ganzen
werke gleichförmigkeit, im letzten theil neigt kein
hochd. vor. 2) Veld. gebraucht nicht allein ungenaue
reime in größerer zahl, als irgend ein mittelh. dichter,
ſondern ſelbſt ſolche, die ſich keiner der letztern er-
laubte; alle aber löſen ſich ohne mühe in niederd. ge-
naue auf. Sollte er ſtrâƷen:câritâten (M. S. 1, 18b)
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ihm daneben das hochd. gerecht war, warum zeigen
ſich keine reime, die hochd. genau, niederd. ungenau
ſeyn würden? Ich wüſte aus der ganzen En. nur fol-
gende anzuſchlagen, 39b wît (albus): vërnît (rubrum,
aus dem roman. vermeil, vermeis) wo das hochd. wîƷ:
vërnîƷ ſchicklicher ſcheint, allein vernîƷ ſelbſt iſt uner-
wieſene form; ſodann 43c 59b ei:zwei, wo zwar kein

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[453/0479] I. mittelniederdeutſche buchſtaben. ſënnen, kënden erweiſlich, da henden auch auf bewun- den (9b) reimt und ſo verhält es ſich mit einer menge ungenauer reime in Roth. fragm. und kaiſerchr., die durch herſtellung ſcheinbarer niederd. formen genau wer- den würden. Ein näheres ſtudium der freieren reim- kunſt kann aber grundſätze an hand geben, nach wel- chen ſich mancher zweifel zwiſchen hoch- und niederd. urform in dieſen gedichten löſen wird. Ähnliche dun- kelheit, doch geringere, ſchwebt über Heinr. v. Vel- decks werken, den die mittelh. dichter ſelbſt als den gründer ihrer meiſterſchaft anſehen, und deſſen êneit (oder ênêd im reim auf wârhêd 4a 102a) mir die haupt- quelle mittelh. ſprache ſcheint. Dichtete er in niederd. ſprache und wurden ſeine arbeiten nachher in hochd. umgeſchrieben? oder bequemte er ſich ſelbſt zum hochd. ſo, daß er eigenheiten der angebornen mundart dabei freien lauf ließ? Anders und in näherer beziehung auf unſere buchſtabenlehre ausgedrückt lautet dieſelbe frage ſo: ſind eine menge ungenauer reime in Veld. werken in genaue niederdeutſche zu verwandeln? oder als un- genaue hochd. beizubehalten? Beiderlei anſicht läßt ſich vertheidigen. Dafür daß der dichter in reiner mut- terſprache dichtete, redet 1) ſeine herkunft aus weſtpha- len, ſein aufenthalt am clever hof, wo er die êneit be- gann und man wohl kein hochd. verlangte. Er been- digte ſie ſpäter in thüringen, aber auch da waren beide mundarten leicht verſtändlich. Es zeigt ſich im ganzen werke gleichförmigkeit, im letzten theil neigt kein hochd. vor. 2) Veld. gebraucht nicht allein ungenaue reime in größerer zahl, als irgend ein mittelh. dichter, ſondern ſelbſt ſolche, die ſich keiner der letztern er- laubte; alle aber löſen ſich ohne mühe in niederd. ge- naue auf. Sollte er ſtrâƷen:câritâten (M. S. 1, 18b) bruoder:muoter (En. 11a. b) anchîſës:iſt En. 24a) (ge- buoƷt:muoƷ (En. 33a) ſchaz:haƷ, daƷ (En. 48a 68a 72b) vaƷƷe:ſazte (En 63b) etc. gebunden haben und nicht vielmehr ſtrâten:câritâten, brôder:môder, anchîſës:ës, gebôt:môt, ſcat:hat, dat, vate:ſate? Umgekehrt, wenn ihm daneben das hochd. gerecht war, warum zeigen ſich keine reime, die hochd. genau, niederd. ungenau ſeyn würden? Ich wüſte aus der ganzen En. nur fol- gende anzuſchlagen, 39b wît (albus): vërnît (rubrum, aus dem roman. vermeil, vermeis) wo das hochd. wîƷ: vërnîƷ ſchicklicher ſcheint, allein vernîƷ ſelbſt iſt uner- wieſene form; ſodann 43c 59b ei:zwei, wo zwar kein

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/479>, abgerufen am 22.11.2024.