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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelniederdeutsche buchstaben.
höchstens dürfen sie einzelnes bestätigen, meistens
weichen sie ganz ab. Wer z. b. ein mittelh. bairisches
bain f. bein und mein für mein behauptet, findet in
der heutigen bair. volkssprache das weder zum goth.
noch zu irgend einem alth. dialect stimmende boan
und main. Dafür haben einige schweizermundarten
wirklich bain, andere boin, ban, baen, ben, boan, doch
alle mein (mei) und nicht mein. Also keine folgerich-
tigkeit, wie wir sie in abweichungen alth. dialecte
stets wahrnehmen.


Mittelniederdeutsche buchstaben.

Den zustand der sprache in sachsen, engern, west-
phalen um diese zeit bezeugen spärliche denkmähler,
nicht einmahl rein erhaltene. Erst künstlich laßen sie
sich zum theil herstellen und wieder nur künstlich an
das altsächs. knüpfen. Im 10. 11. jahrh. reißt beinahe
aller faden ab. Einzelne kleine bruchstücke, einige
orts- und eigennamen in urkunden sind von der mund-
art übrig, die früher so gefügsam, auch unter den sächs.
kaisern gewiß nicht ohne gunst und pflege geblieben
war. Später gewann, als sich die herrschaft des reichs
nach franken und schwaben wendete, das hochdeutsch
die oberhand. Reinniederdeutsche dichtungen des 13.
jahrh. laßen sich kaum aufweisen, Eberhards gandersh.
chronik (bei Harenberg und Leibnitz) vielleicht aus die-
ser zeit, verschiedene kleinere gedichte aus dem 14ten
(gesammelt bei Bruns) stehen weit unter dem blühenden
reichthum mittelh. denkmähler und sind dazu aus schlech-
ten hss. ohne sprachcritik abgedruckt nur behutsam zu
gebrauchen. Wichtiger ist folgendes. Die bedeutend-
sten dichtungen des 12. jahrh., wiewohl in hochd.
schreibung auf uns gebracht, verrathen eine halbniederd.
abfaßung; dahin rechne ich (nicht Wernhers Maria)
die kaiserchron. (c. pal. 361.) den sich damit berühren-
den lobgesang auf Anno, das lied von Karl (c. pal. 112,
ein stück bei Schilter gedr.) noch entschiedner das von
Rother. Die niederd. sprachformen sind an den reimen
erkennbar, die wahren buchstabverhältnisse doch nicht
ganz herstellbar, weil die freiere reimkunst jener zeit
verschiedenartige voc. und cons. nach gewissen verwandt-
schaften verbindet; also z. b. aus Roth. 6b wenden:kin-
den, kennen:sinnen ist kein niederd. kennen, wenden,

I. mittelniederdeutſche buchſtaben.
höchſtens dürfen ſie einzelnes beſtätigen, meiſtens
weichen ſie ganz ab. Wer z. b. ein mittelh. bairiſches
bain f. bein und mein für mîn behauptet, findet in
der heutigen bair. volksſprache das weder zum goth.
noch zu irgend einem alth. dialect ſtimmende boan
und main. Dafür haben einige ſchweizermundarten
wirklich bain, andere boin, bân, bæn, bên, boan, doch
alle mîn (mî) und nicht mein. Alſo keine folgerich-
tigkeit, wie wir ſie in abweichungen alth. dialecte
ſtets wahrnehmen.


Mittelniederdeutſche buchſtaben.

Den zuſtand der ſprache in ſachſen, engern, weſt-
phalen um dieſe zeit bezeugen ſpärliche denkmähler,
nicht einmahl rein erhaltene. Erſt künſtlich laßen ſie
ſich zum theil herſtellen und wieder nur künſtlich an
das altſächſ. knüpfen. Im 10. 11. jahrh. reißt beinahe
aller faden ab. Einzelne kleine bruchſtücke, einige
orts- und eigennamen in urkunden ſind von der mund-
art übrig, die früher ſo gefügſam, auch unter den ſächſ.
kaiſern gewiß nicht ohne gunſt und pflege geblieben
war. Später gewann, als ſich die herrſchaft des reichs
nach franken und ſchwaben wendete, das hochdeutſch
die oberhand. Reinniederdeutſche dichtungen des 13.
jahrh. laßen ſich kaum aufweiſen, Eberhards gandersh.
chronik (bei Harenberg und Leibnitz) vielleicht aus die-
ſer zeit, verſchiedene kleinere gedichte aus dem 14ten
(geſammelt bei Bruns) ſtehen weit unter dem blühenden
reichthum mittelh. denkmähler und ſind dazu aus ſchlech-
ten hſſ. ohne ſprachcritik abgedruckt nur behutſam zu
gebrauchen. Wichtiger iſt folgendes. Die bedeutend-
ſten dichtungen des 12. jahrh., wiewohl in hochd.
ſchreibung auf uns gebracht, verrathen eine halbniederd.
abfaßung; dahin rechne ich (nicht Wernhers Maria)
die kaiſerchron. (c. pal. 361.) den ſich damit berühren-
den lobgeſang auf Anno, das lied von Karl (c. pal. 112,
ein ſtück bei Schilter gedr.) noch entſchiedner das von
Rother. Die niederd. ſprachformen ſind an den reimen
erkennbar, die wahren buchſtabverhältniſſe doch nicht
ganz herſtellbar, weil die freiere reimkunſt jener zeit
verſchiedenartige voc. und conſ. nach gewiſſen verwandt-
ſchaften verbindet; alſo z. b. aus Roth. 6b wenden:kin-
den, kennen:ſinnen iſt kein niederd. kënnen, wënden,

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[452/0478] I. mittelniederdeutſche buchſtaben. höchſtens dürfen ſie einzelnes beſtätigen, meiſtens weichen ſie ganz ab. Wer z. b. ein mittelh. bairiſches bain f. bein und mein für mîn behauptet, findet in der heutigen bair. volksſprache das weder zum goth. noch zu irgend einem alth. dialect ſtimmende boan und main. Dafür haben einige ſchweizermundarten wirklich bain, andere boin, bân, bæn, bên, boan, doch alle mîn (mî) und nicht mein. Alſo keine folgerich- tigkeit, wie wir ſie in abweichungen alth. dialecte ſtets wahrnehmen. Mittelniederdeutſche buchſtaben. Den zuſtand der ſprache in ſachſen, engern, weſt- phalen um dieſe zeit bezeugen ſpärliche denkmähler, nicht einmahl rein erhaltene. Erſt künſtlich laßen ſie ſich zum theil herſtellen und wieder nur künſtlich an das altſächſ. knüpfen. Im 10. 11. jahrh. reißt beinahe aller faden ab. Einzelne kleine bruchſtücke, einige orts- und eigennamen in urkunden ſind von der mund- art übrig, die früher ſo gefügſam, auch unter den ſächſ. kaiſern gewiß nicht ohne gunſt und pflege geblieben war. Später gewann, als ſich die herrſchaft des reichs nach franken und ſchwaben wendete, das hochdeutſch die oberhand. Reinniederdeutſche dichtungen des 13. jahrh. laßen ſich kaum aufweiſen, Eberhards gandersh. chronik (bei Harenberg und Leibnitz) vielleicht aus die- ſer zeit, verſchiedene kleinere gedichte aus dem 14ten (geſammelt bei Bruns) ſtehen weit unter dem blühenden reichthum mittelh. denkmähler und ſind dazu aus ſchlech- ten hſſ. ohne ſprachcritik abgedruckt nur behutſam zu gebrauchen. Wichtiger iſt folgendes. Die bedeutend- ſten dichtungen des 12. jahrh., wiewohl in hochd. ſchreibung auf uns gebracht, verrathen eine halbniederd. abfaßung; dahin rechne ich (nicht Wernhers Maria) die kaiſerchron. (c. pal. 361.) den ſich damit berühren- den lobgeſang auf Anno, das lied von Karl (c. pal. 112, ein ſtück bei Schilter gedr.) noch entſchiedner das von Rother. Die niederd. ſprachformen ſind an den reimen erkennbar, die wahren buchſtabverhältniſſe doch nicht ganz herſtellbar, weil die freiere reimkunſt jener zeit verſchiedenartige voc. und conſ. nach gewiſſen verwandt- ſchaften verbindet; alſo z. b. aus Roth. 6b wenden:kin- den, kennen:ſinnen iſt kein niederd. kënnen, wënden,

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/478>, abgerufen am 22.11.2024.