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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
(secessus) vreidic (transfuga) sweime (motitatio) lancsei-
me (vix, aegre) leinen (inclinare) seine (tarde) leis, leise
(vestigium) eise (horror) heise (raucus) weit (lividus) etc.
Ein ei weisen zumahl die von starken wurzeln auf ei
abgeleiteten schwachen verba, vgl. scheinen (videri) er-
scheinen (ostendere) sweinen (tabescere, consumi) swei-
nen (consumere) neigen (flecti) neigen (flectere) zeihen,
wovon vielleicht zeigen *) etc. Man merke 1) der ans-
laut ei ist selten, vgl. ei (ovum) zwei (duo) hei (interj)
gehei (? ardor) schrei (clamor) rei (M. S. 2, 79a) sodann
die praet. schrei, spei, glei (garrivit) und ähnliche. Allein
diese praet. auf ei haben nur einige dichter (Wolfram,
Reinbot, Conrad), die übrigen gebrauchen, mit verwan-
deltem ei in e, schre und spe, was nach s. 90. ein apo-
copiertes h oder w voraussetzt, daher auch für zwei oder
ei (ovum) nie ein mittelh. zwe, e stattfindet. Wirnt
und Rudolf ist beides, schre und schrei gerecht (Wig.
181. 183. Bacl. 86. 118. 125. 204.) am seltensten aber das
gleichfalls noch wolframische zeich f. zech (Wilh. 2, 51a,
wo die änderung von verzeich in gesweich unnöthig).
2) das schwanken des inlautenden bede und beide ist theils
dialectisch, theils mit der flexion zus. hängend (näheres
bei der flexion dieses worts); leider (M. S. 2, 76b) für
leder (corium) ist zu tadeln. 3) wie sich aus ei eig ent-
wickelt, umgekehrt aber eg vor lingualen zu ei wird,
unten beim g. 4) beispiele des ei in fremden wörtern:
pavei, nanzei, turnei, keie, leie, feie (bei Wolfram und
Hartman; Conrad und Gotfried sagen feine) marveile,
belrapeire, tampenteire, berteneis, waleis, kurteis, tem-
peleise, foreist, tschofreit, pauneiß etc.; es ist hier über-
all wie ein deutsches ei auszusprechen (vgl. unten oi)
franzeise: reise; kurteise: weise (Wilh. 2, 13b 47a) mora-
liteit: mueßicheit (Trist. 58a).

(EU) eu, ganz entbehrlich, aber in einzelnen hss.
sowohl für iu als öu gebraucht; jenes wäre dann näher
in eu, dieses in eu (umlaut des au statt ou) zu bestim-
men, vgl. oben s. 102. 103.

(IE) ie entspricht dem alth. ia und io, folglich dem
schon notkerischen ie und ist ganz danach zu beurthei-

*) Zeigen, erzeigen, monstrare (alth. zeigon): eigen, neigen
reimend; verschieden von zöugen, erzöugen, testisieari
(alts. togjan): öugen, söugen (Ben. 147. erzougen: ougen)
desgl. von erziugen (testibus probare); beide letztere wohl
von ziehen herzuleiten?

I. mittelhochdeutſche vocale.
(ſeceſſus) vreidic (transfuga) ſweime (motitatio) lancſei-
me (vix, aegre) leinen (inclinare) ſeine (tarde) leis, leiſe
(veſtigium) eiſe (horror) heiſe (raucus) weit (lividus) etc.
Ein ei weiſen zumahl die von ſtarken wurzeln auf î
abgeleiteten ſchwachen verba, vgl. ſchînen (videri) er-
ſcheinen (oſtendere) ſwînen (tabeſcere, conſumi) ſwei-
nen (conſumere) nîgen (flecti) neigen (flectere) zîhen,
wovon vielleicht zeigen *) etc. Man merke 1) der ans-
laut ei iſt ſelten, vgl. ei (ovum) zwei (duo) hei (interj)
gehei (? ardor) ſchrei (clamor) rei (M. S. 2, 79a) ſodann
die praet. ſchrei, ſpei, glei (garrivit) und ähnliche. Allein
dieſe praet. auf ei haben nur einige dichter (Wolfram,
Reinbot, Conrad), die übrigen gebrauchen, mit verwan-
deltem ei in ê, ſchrê und ſpê, was nach ſ. 90. ein apo-
copiertes h oder w vorausſetzt, daher auch für zwei oder
ei (ovum) nie ein mittelh. zwê, ê ſtattfindet. Wirnt
und Rudolf iſt beides, ſchrê und ſchrei gerecht (Wig.
181. 183. Bacl. 86. 118. 125. 204.) am ſeltenſten aber das
gleichfalls noch wolframiſche zeich f. zêch (Wilh. 2, 51a,
wo die änderung von verzeich in geſweich unnöthig).
2) das ſchwanken des inlautenden bêde und beide iſt theils
dialectiſch, theils mit der flexion zuſ. hängend (näheres
bei der flexion dieſes worts); leider (M. S. 2, 76b) für
lëder (corium) iſt zu tadeln. 3) wie ſich aus ei eig ent-
wickelt, umgekehrt aber eg vor lingualen zu ei wird,
unten beim g. 4) beiſpiele des ei in fremden wörtern:
pâvei, nanzei, turnei, keie, leie, feie (bei Wolfram und
Hartman; Conrad und Gotfried ſagen feine) marveile,
bëlrâpeire, tampenteire, bërteneis, wâleis, kurteis, tem-
peleiſe, fôreiſt, tſchôfreit, pûneiƷ etc.; es iſt hier über-
all wie ein deutſches ei auszuſprechen (vgl. unten oi)
franzeiſe: reiſe; kurteiſe: weiſe (Wilh. 2, 13b 47a) môrâ-
liteit: mueƷicheit (Triſt. 58a).

(EU) eu, ganz entbehrlich, aber in einzelnen hſſ.
ſowohl für iu als öu gebraucht; jenes wäre dann näher
in ëu, dieſes in eu (umlaut des au ſtatt ou) zu beſtim-
men, vgl. oben ſ. 102. 103.

(IE) ie entſpricht dem alth. ia und io, folglich dem
ſchon notkeriſchen ie und iſt ganz danach zu beurthei-

*) Zeigen, erzeigen, monſtrare (alth. zeigôn): eigen, neigen
reimend; verſchieden von zöugen, erzöugen, teſtiſieari
(altſ. tôgjan): öugen, ſöugen (Ben. 147. erzougen: ougen)
desgl. von erziugen (teſtibus probare); beide letztere wohl
von ziehen herzuleiten?
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[350/0376] I. mittelhochdeutſche vocale. (ſeceſſus) vreidic (transfuga) ſweime (motitatio) lancſei- me (vix, aegre) leinen (inclinare) ſeine (tarde) leis, leiſe (veſtigium) eiſe (horror) heiſe (raucus) weit (lividus) etc. Ein ei weiſen zumahl die von ſtarken wurzeln auf î abgeleiteten ſchwachen verba, vgl. ſchînen (videri) er- ſcheinen (oſtendere) ſwînen (tabeſcere, conſumi) ſwei- nen (conſumere) nîgen (flecti) neigen (flectere) zîhen, wovon vielleicht zeigen *) etc. Man merke 1) der ans- laut ei iſt ſelten, vgl. ei (ovum) zwei (duo) hei (interj) gehei (? ardor) ſchrei (clamor) rei (M. S. 2, 79a) ſodann die praet. ſchrei, ſpei, glei (garrivit) und ähnliche. Allein dieſe praet. auf ei haben nur einige dichter (Wolfram, Reinbot, Conrad), die übrigen gebrauchen, mit verwan- deltem ei in ê, ſchrê und ſpê, was nach ſ. 90. ein apo- copiertes h oder w vorausſetzt, daher auch für zwei oder ei (ovum) nie ein mittelh. zwê, ê ſtattfindet. Wirnt und Rudolf iſt beides, ſchrê und ſchrei gerecht (Wig. 181. 183. Bacl. 86. 118. 125. 204.) am ſeltenſten aber das gleichfalls noch wolframiſche zeich f. zêch (Wilh. 2, 51a, wo die änderung von verzeich in geſweich unnöthig). 2) das ſchwanken des inlautenden bêde und beide iſt theils dialectiſch, theils mit der flexion zuſ. hängend (näheres bei der flexion dieſes worts); leider (M. S. 2, 76b) für lëder (corium) iſt zu tadeln. 3) wie ſich aus ei eig ent- wickelt, umgekehrt aber eg vor lingualen zu ei wird, unten beim g. 4) beiſpiele des ei in fremden wörtern: pâvei, nanzei, turnei, keie, leie, feie (bei Wolfram und Hartman; Conrad und Gotfried ſagen feine) marveile, bëlrâpeire, tampenteire, bërteneis, wâleis, kurteis, tem- peleiſe, fôreiſt, tſchôfreit, pûneiƷ etc.; es iſt hier über- all wie ein deutſches ei auszuſprechen (vgl. unten oi) franzeiſe: reiſe; kurteiſe: weiſe (Wilh. 2, 13b 47a) môrâ- liteit: mueƷicheit (Triſt. 58a). (EU) eu, ganz entbehrlich, aber in einzelnen hſſ. ſowohl für iu als öu gebraucht; jenes wäre dann näher in ëu, dieſes in eu (umlaut des au ſtatt ou) zu beſtim- men, vgl. oben ſ. 102. 103. (IE) ie entſpricht dem alth. ia und io, folglich dem ſchon notkeriſchen ie und iſt ganz danach zu beurthei- *) Zeigen, erzeigen, monſtrare (alth. zeigôn): eigen, neigen reimend; verſchieden von zöugen, erzöugen, teſtiſieari (altſ. tôgjan): öugen, ſöugen (Ben. 147. erzougen: ougen) desgl. von erziugen (teſtibus probare); beide letztere wohl von ziehen herzuleiten?

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/376>, abgerufen am 17.05.2024.