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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
Der fall ist selten; ich finde cristaene (Flore mehrmals:
waene: seltsaene; alth. christani, Docen misc. 1, 7.) und
brangaene (bei Gotfried; Vriberc 33a 39c hat aber pran-
gane); im Parc. norwaege (16a 93c 160b 161c) beide letz-
tere setzen theoretisch ein brangan, norwac voraus. die
sich schwerlich nachweisen laßen. Ohne umlaut bran-
gane, norwage anzunehmen, würde entw. die genauig-
keit des reims oder das frühe daseyn des umlauts ae
überhaupt verdächtigen, insofern nämlich wane, seltsane,
spane gelesen werden müste. Ob haersenier, pfaereit aus
harsenier, pfareit entstehen, läßt sich erst nach aufhellung
ihres fremden ursprungs entscheiden (vgl. oben s. 334. 345.
über pfereit und psert). Im Tit. liest man häufig vaele
(defectus) neben dem unumgelauteten valen (roman. fal-
har, franz. faillir) neuh. fehlen; bei veinaeger: unwaeger
(Parc. 133c) kann wieder kein umlaut des a nachgewie-
sen werden; sollte aus roman. ai (in faille, vinaigre,
norvaige, brangain?) ein mittelh. ae, also ohne umlaut,
erwachsen? vgl. unten über iu in fremden wörtern. --
Ob in deutschen wörtern zuweilen ae statt e vor h und
ht stattfinde? entscheidet sich nach dem a oder a vor
diesen lauten (s. 342.) vgl. aehte: gedaehte: braehte (Parc.
128b M. S. 2, 20b).

(AI. AU) ai, au finden so wenig als im gemein. alth.
statt, sondern lauten ei und ou. Daß einzelne hss. ai
und au für diese, folglich auch ei für ei schreiben (vgl.
Docen misc. 1, 51-64. und Strickers Karl ist nichts als
die vom copisten eingeschwärzte östreichisch-bairische
volksaussprache. Niemand wird diese ai, au, ei der wah-
ren mundart Conrads beimeßen, in dessen einer erzäh-
lung sie geschrieben stehen. Die reime beweisen nichts
für ai, au, ei; sie würden es, wenn irgend ein fremdes
wort mit bestimmtem ai, au, ei einem deutschen mit ei,
ou, ei verbunden stünde, allein ich finde pavei (pavia)
nanzei (nancejum): zwei, schrei reimend (Wilh. 2, 76b
196a) nicht auf ein bei statt bi hingegen blavei: bei (Wilh.
2, 7a 12a); ebensowenig kai, esau auf ein zwai, rau son-
dern kaei, esaau auf sei, nau. Bloß das gebe ich zu, daß
einzelne ou auf au reimen (s. unten beim ou) was sich
in ein neuh. au: au aufzulösen scheint; doch au für au
ist weder gothisch, noch alth. (mit seltenen ausnahmen,
oben s. 98. tauba f. tauba), wiewohl in jenen hss. zu fin-
den (vgl. Docen misc. 1, 57. anß. auf st. auß, auf). --

(EI) ei, macht keinen anstand und kommt häufig
vor, einige seltnere belege sind: geweide (viscera) vreide

I. mittelhochdeutſche vocale.
Der fall iſt ſelten; ich finde criſtæne (Flore mehrmals:
wæne: ſeltſæne; alth. chriſtâni, Docen miſc. 1, 7.) und
brangæne (bei Gotfried; Vriberc 33a 39c hat aber pran-
gâne); im Parc. norwæge (16a 93c 160b 161c) beide letz-
tere ſetzen theoretiſch ein brangàn, norwâc voraus. die
ſich ſchwerlich nachweiſen laßen. Ohne umlaut bran-
gâne, norwâge anzunehmen, würde entw. die genauig-
keit des reims oder das frühe daſeyn des umlauts æ
überhaupt verdächtigen, inſofern nämlich wâne, ſëltſàne,
ſpàne geleſen werden müſte. Ob hærſenier, pfærît aus
hârſenier, pfàrît entſtehen, läßt ſich erſt nach aufhellung
ihres fremden urſprungs entſcheiden (vgl. oben ſ. 334. 345.
über pfërît und pſërt). Im Tit. lieſt man häufig væle
(defectus) neben dem unumgelauteten vâlen (roman. fal-
har, franz. faillir) neuh. fehlen; bei vînæger: unwæger
(Parc. 133c) kann wieder kein umlaut des â nachgewie-
ſen werden; ſollte aus roman. ai (in faille, vinaigre,
norvaige, brangain?) ein mittelh. æ, alſo ohne umlaut,
erwachſen? vgl. unten über iu in fremden wörtern. —
Ob in deutſchen wörtern zuweilen æ ſtatt e vor h und
ht ſtattfinde? entſcheidet ſich nach dem â oder a vor
dieſen lauten (ſ. 342.) vgl. æhte: gedæhte: bræhte (Parc.
128b M. S. 2, 20b).

(AI. AU) ai, au finden ſo wenig als im gemein. alth.
ſtatt, ſondern lauten ei und ou. Daß einzelne hſſ. ai
und au für dieſe, folglich auch ei für î ſchreiben (vgl.
Docen miſc. 1, 51-64. und Strickers Karl iſt nichts als
die vom copiſten eingeſchwärzte öſtreichiſch-bairiſche
volksausſprache. Niemand wird dieſe ai, au, ei der wah-
ren mundart Conrads beimeßen, in deſſen einer erzäh-
lung ſie geſchrieben ſtehen. Die reime beweiſen nichts
für ai, au, ei; ſie würden es, wenn irgend ein fremdes
wort mit beſtimmtem ai, au, ei einem deutſchen mit ei,
ou, î verbunden ſtünde, allein ich finde pâvei (pavia)
nanzei (nancejum): zwei, ſchrei reimend (Wilh. 2, 76b
196a) nicht auf ein bei ſtatt bì hingegen blâvî: bî (Wilh.
2, 7a 12a); ebenſowenig kai, êſau auf ein zwai, rau ſon-
dern kâî, êſâû auf ſî, nû. Bloß das gebe ich zu, daß
einzelne ou auf û reimen (ſ. unten beim ou) was ſich
in ein neuh. áu: aú aufzulöſen ſcheint; doch au für û
iſt weder gothiſch, noch alth. (mit ſeltenen ausnahmen,
oben ſ. 98. tauba f. tûba), wiewohl in jenen hſſ. zu fin-
den (vgl. Docen miſc. 1, 57. anƷ. auf ſt. ûƷ, ûf). —

(EI) ei, macht keinen anſtand und kommt häufig
vor, einige ſeltnere belege ſind: geweide (viſcera) vreide

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[349/0375] I. mittelhochdeutſche vocale. Der fall iſt ſelten; ich finde criſtæne (Flore mehrmals: wæne: ſeltſæne; alth. chriſtâni, Docen miſc. 1, 7.) und brangæne (bei Gotfried; Vriberc 33a 39c hat aber pran- gâne); im Parc. norwæge (16a 93c 160b 161c) beide letz- tere ſetzen theoretiſch ein brangàn, norwâc voraus. die ſich ſchwerlich nachweiſen laßen. Ohne umlaut bran- gâne, norwâge anzunehmen, würde entw. die genauig- keit des reims oder das frühe daſeyn des umlauts æ überhaupt verdächtigen, inſofern nämlich wâne, ſëltſàne, ſpàne geleſen werden müſte. Ob hærſenier, pfærît aus hârſenier, pfàrît entſtehen, läßt ſich erſt nach aufhellung ihres fremden urſprungs entſcheiden (vgl. oben ſ. 334. 345. über pfërît und pſërt). Im Tit. lieſt man häufig væle (defectus) neben dem unumgelauteten vâlen (roman. fal- har, franz. faillir) neuh. fehlen; bei vînæger: unwæger (Parc. 133c) kann wieder kein umlaut des â nachgewie- ſen werden; ſollte aus roman. ai (in faille, vinaigre, norvaige, brangain?) ein mittelh. æ, alſo ohne umlaut, erwachſen? vgl. unten über iu in fremden wörtern. — Ob in deutſchen wörtern zuweilen æ ſtatt e vor h und ht ſtattfinde? entſcheidet ſich nach dem â oder a vor dieſen lauten (ſ. 342.) vgl. æhte: gedæhte: bræhte (Parc. 128b M. S. 2, 20b). (AI. AU) ai, au finden ſo wenig als im gemein. alth. ſtatt, ſondern lauten ei und ou. Daß einzelne hſſ. ai und au für dieſe, folglich auch ei für î ſchreiben (vgl. Docen miſc. 1, 51-64. und Strickers Karl iſt nichts als die vom copiſten eingeſchwärzte öſtreichiſch-bairiſche volksausſprache. Niemand wird dieſe ai, au, ei der wah- ren mundart Conrads beimeßen, in deſſen einer erzäh- lung ſie geſchrieben ſtehen. Die reime beweiſen nichts für ai, au, ei; ſie würden es, wenn irgend ein fremdes wort mit beſtimmtem ai, au, ei einem deutſchen mit ei, ou, î verbunden ſtünde, allein ich finde pâvei (pavia) nanzei (nancejum): zwei, ſchrei reimend (Wilh. 2, 76b 196a) nicht auf ein bei ſtatt bì hingegen blâvî: bî (Wilh. 2, 7a 12a); ebenſowenig kai, êſau auf ein zwai, rau ſon- dern kâî, êſâû auf ſî, nû. Bloß das gebe ich zu, daß einzelne ou auf û reimen (ſ. unten beim ou) was ſich in ein neuh. áu: aú aufzulöſen ſcheint; doch au für û iſt weder gothiſch, noch alth. (mit ſeltenen ausnahmen, oben ſ. 98. tauba f. tûba), wiewohl in jenen hſſ. zu fin- den (vgl. Docen miſc. 1, 57. anƷ. auf ſt. ûƷ, ûf). — (EI) ei, macht keinen anſtand und kommt häufig vor, einige ſeltnere belege ſind: geweide (viſcera) vreide

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/375>, abgerufen am 17.05.2024.